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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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hörte zu seinem Leidwesen, daß die beiden Musikaliengeschäfte, die der Provisor aufgesucht hatte, um Violinsaiten zu holen, noch geschlossen waren. Der kleine Herr oben öffnete dann seinen Regenmantel und zog darunter einen Stoß Zeitungen hervor. Der Apotheker wollte damit ins Haus flüchten, aber sie hielten ihn fest. Er breitete im Gedränge eine aus, trotz seines Unwillens wurden ihm die andern entwunden, man las laut, der Haufen wuchs.
    Der lange Apotheker hielt die »Straßburger Neue Zeitung« und las: »Scherben.« Die Leute riefen: »Lauter.« Nachher waren um ihn so viele, daß er den Provisor bat, ihm den Arzneikasten abzunehmen, weil man ihn quetschte. Er unterbrach sich, als jemand aus der Apotheke einen Stuhl herausbrachte und vor ihn schob. Er blickte den Mann, der seinen Stuhl brachte, verständnislos, verblüfft an, aber er mußte ihn besteigen. Er las von »Wilhelm dem Zweiten«, der gedroht habe, »die elsässische Verfassung in Scherben zu zerschlagen«. Aber nun habe er durch sein unwürdiges Kleben an der Krone die Dinge zum Äußersten gebracht. »Die ganze deutsche Verfassung liegt in Scherben.«
    Der Apotheker drehte sich oben auf dem Stuhl um, suchte den Provisor: »Bringen Sie doch bitte meinen Mantel heraus und den Hut.« Der Wind blies heftig, die Zeitung wehte gegen seine Brust. Als man rief: »Weiter lesen«, schrie er herunter: »Mir sind die Hände klamm.« Man mußte sich gedulden, bis er sich vor aller Welt den Mantel angezogen, den Hut aufgesetzt und die Handschuh angelegt hatte. Währenddessen hielt er die Zeitung zwischen den Knien geklemmt und blickte wild auf einen Mann, der sie ihm unten wegziehen wollte. Die enge Straße war bis auf die andere Seite von Menschen eingenommen, die auch aus den Seitengassen hervorkamen. Manche blickten aus dem Fenster und liefen herunter. Der lange Apotheker fühlte sich im Stehen über der Menge in seine Rolle hinein: »Unter diesem Gesichtspunkt«, las er lauter und schwungvoller, »sind alle sogenannten Lösungen der elsaß-lothringischen Frage zu betrachten, vom autonomen Bundesstaat über die Neutralität bis zum Plebiszit; und wir scheuen uns als Demokraten nicht, es auszusprechen, daß wir auch ein Plebiszit heute ablehnen; es hätte doch nur den Zweck, Frankreich zu prellen, ein Zweck, der übrigens nach unserer festen Überzeugung auch mit den stärksten Druckmitteln nicht mehr erreicht würde.«
    Den Menschen unten stockte der Atem vor Erregung. Ihre Pupillen weiteten sich. Dies konnte laut gesagt werden, dies ertrug die Luft, das klang gegen ihre alten stummen Häuserwände. Und dabei standen Landstürmer in der feldgrauen Uniform und nickten! Der lange Apotheker sah, wie die Leute die Münder öffneten und sich mit einem Lächeln anblickten, er geriet selber in ein feierliches, enthusiastisches Deklamieren, das noch von Schulgedichten in ihm steckte:
    »Wir wissen, was wir wollen! Unsere Väter haben nicht nur in Bordeaux, sie haben auch bei den Wahlen im Jahre 1873 und in Berlin protestiert, und es ist darum ganz falsch, zu sagen, man hätte das elsaß-lothringische Volk nicht um seine Meinung über die Annexion befragt. Die ist klar und eindeutig und der Welt seit bald fünfzig Jahren bekannt.«
    Vereinzelt klatschten sie Beifall, »st, st«, »weiterlesen«. Der Apotheker schwenkte sein Blatt: »Wenn darum von Volksabstimmung die Rede sein soll, kann sie nur den Sinn haben, daß uns die Franzosen fragen, ob wir bei ihnen bleiben wollen. Wir brennen darauf, den Franzosen auf diese Frage zu antworten.«
    Der Apotheker ließ das Blatt sinken und drehte sein vor Kälte bläuliches Gesicht nach beiden Seiten. Sie schrien: »Bravo«, er war geschmeichelt, bezog es auf sein Pathos, seine Mutter hatte oft gesagt, wenn er in der Schule aufsagte, er würde einmal Abgeordneter werden. Er stieg mit leichten Verbeugungen vom Stuhl, dem Podium seines Triumphes. Man schrie durcheinander. Wie er mit Hochgefühl feststellte, hatte er die Leute erregt. Sogar die zwei preußischen Landstürmer mit Pfeifen im Mund klatschten. Einige riefen: »Abzug die Schwobe.« Er trug den Stuhl zwei Schritte, dann nahm ehrerbietig eine Frau ihn ab, er folgte mit Herzklopfen, dankte der Frau. Nach einigen Minuten Besinnung telephonierte er nach oben seiner Frau, daß er gesprochen hätte. Sie schlief noch. Was denn? Vorgelesen aus der Zeitung. Was du? Ja, vor dem Laden. Ich werde bald runterkommen.

    Währenddessen war der Provisor aus dem Schuppen im Hof, wo

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