November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
auch erbot; man einte sich darauf abzuwechseln, der Justizrat schlug vor, jeder Dame bei der Ablösung eine offizielle Bonbonniere zu verehren, die Damen protestierten.
In dieser angeregten Atmosphäre begann der behäbige Bürokrat neben dem Justizrat, der bisherige Bürgermeister, ein älterer schmunzelnder Glatzkopf, der in geräumigen Kleidern wohnte, kleine Bemerkungen über den Tisch zu machen und sich dann zufrieden wieder seinem Grog zuzuwenden, um in sich den Boden zu neuen Notizen vorzubereiten. Er brummelte: »Man ist allein, der Draht funktioniert nicht, Straßburg, Berlin schweigen, Paris ist noch nicht da. Wir leben im Urzustand.« Alle lächeln sich süß an. »Urzustand ist schön, es kann Paradies sein, es kann auch ...« »Sie werden doch nicht vom Sündenfall sprechen, Herr Bürgermeister?« Das sprach ein katholischer Priester, der in Zivil hier saß. Der Bürokrat erhob die Hände. »Bewahre, keine Kompetenzüberschreitung! Gemeint ist Unordnung.« Und er ließ einiges darüber verlauten, was schon am Flugplatz, in militärischen Magazinen et cetera geschehen sei. Zuletzt erstarben seine Worte in Geflüster.
Gern hätte der Apotheker gesprochen. Er paßte scharf auf, ob eine Lücke für ihn in der Unterhaltung entstand, und tauschte Blicke mit seiner Frau, die auch wartete. Man hörte von draußen ein mächtiges Händeklatschen, die Musik krachte wieder hin und her, eine Rede war zu Ende. Man gab sich oben noch leiser, verschwörerischer. Der Justizrat hatte seine Hornbrille aufgesetzt und las zusammen mit dem Kuratus ein Papier, immer wieder mit dem Blick auf die Anwesenden; der Kuratus ging mit dem Blatt im Raum herum, es war die Anwesenheitsliste, er machte ein Kreuz hinter jeden Namen. Dann ging die Debatte weiter. Man erklärte sich als provisorisches Ortskomitee, dem Bürgermeister wurde das Vertrauen ausgesprochen. Der Justizrat sagte: »Das ist der eigentliche Grund unserer Zusammenkunft.« Der hauchende Bürokrat: »Vielen Dank. Ich habe immer gern eine Behörde über mir.« Man ernannte noch rasch fünf Männer zu Mitgliedern eines Stadtausschusses, der Justizrat erläuterte, nach beiden Seiten und über das Tischviereck; alles natürlich provisorisch, es kann schon morgen zu Ende sein, die Nachrichten sind leider verworren.
Das war der Moment für den Apotheker: die Nachrichten. Er erhob sich, log stehenden Fußes, lang, wie er war, daß er heute in Straßburg war, um Serum für einige eilige Fälle zu besorgen (der pathetische Ton wollte sich noch nicht einstellen). In der Stadt Straßburg herrsche große Unruhe (Scherben) und Begeisterung, man erwarte den Tag der Besetzung. (Es ging schon besser.) Der Justizrat streckte freundlich einladend zu ihm seinen langen Arm aus: »Aber setzen Sie sich doch!« Er setzte sich gestört, schwieg einen Augenblick, im Sitzen konnte er schlecht deklamieren und nun gar mit dem Direktor des Kaufhauses neben sich. Da fragte auch schon der Kuratus über den Tisch: »Ist es wahr, daß die Meuterer Kirchen in Straßburg plündern und anstecken?« Allgemeines Erschrekken. Der Apotheker stammelte: »Davon – weiß ich nichts.« Sogleich redete der Kuratus, redete empört über diese Vorgänge, man teilte die Empörung, der Apotheker war unter den Tisch gefallen. Und während man über die Einrichtung eines Selbstschutzes, einer Bürgerwehr beriet – es gab auch hier Kirchen –, wagte er nicht, sich nach seiner Frau umzudrehen.
Auf dem Platz stehen mitten unter den Rekruten und Landstürmern Offiziere, ohne Achselstücke. Ab und zu bewegen sich Rekruten und Zivilisten an ihnen vorbei, um sich zu überzeugen, daß sie rote Kokarden tragen. Es bleibt ein leerer Raum um sie, sie sprechen nicht, sind blaß, rauchen krampfhaft Zigaretten.
Neue Musik. Eine Schar Infanteristen kommt anmarschiert. Jubelwellen über dem Platz. Eine rote Fahne tanzt in der Hand des kindlich lustigen Rekruten an der Spitze. Alles begreift: der freut sich, nach Hause zu kommen. Sie marschieren hinter ihm, Arm in Arm, das Zivil weicht aus, sie stoßen zu der Artillerie und stecken sie mit ihrer Heiterkeit an. Lange Minuten ist nur Geschrei. Im ersten Stock des Cafés haben sie die Fenster geöffnet, der Bürgermeister zeigt sich, auf dem Rednertisch stehen zwei Soldaten und grüßen militärisch herüber, er verneigt sich.
Die Soldaten haben eben erklärt, daß man das Joch der Hohenzollern abgeworfen habe, sie wollten Frieden, und Frieden für alle, und trügen dem
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