Noware (German Edition)
Schemen, der sich über die Grenze schwingt und
verschwindet.
»Scheiße«, sagt Krimhild,
»jetzt habe ich schlechte Laune.« Er zielt plötzlich auf mich.
»Los jetzt!« Er winkt mit der Waffe, stromaufwärts. Ich zögere
keine Sekunde, gehe los, Krimhild und ein paar andere Kerle hinter
und neben mir. Ich sehe nicht zurück. Nicht, als ich derbe Flüche
höre, nicht, als meine Kameraden schreien, als Schüsse fallen.
Ich höre höhnisches Lachen,
und dann nur noch unsere Schritte.
Als wir um die Kurve biegen,
sehe ich die Doppelreihe beleuchteter Zugfenster in der Ferne. Wir
nähern uns dem Zug, kommen an zwei bewaffneten Posten vorbei, an
mehreren beleuchteten Hütten, an Autowracks am Straßenrand. Aus
einer alten Garage stinkt es wie in einer Fleischerei. Bärtige Kerle
laufen oder stehen herum.
Mitten auf der Strecke steht
ein Doppelstock-Neigetechnik-ICE. Damals der modernste Zug der Bahn,
ganz in weiß, mit zwei schwarzen Fensterbändern und einer schmalen,
roten Zierleiste.
Jetzt ist der Zug schmutzig,
beschmiert mit zotigen Sprüchen, Graffitti-Geheimschrift, sinnlos,
bunt, ohne dass das Auge einen Halt findet. Hinter einigen Fenstern
ist Licht, aber es flackert, wie von Kerzen.
Am schmalen Hang zwischen
Straße und Zug brennen Feuer, hängen Kerle herum, die mich
neugierig begaffen, mit allen möglichen Schimpfwörtern belegen und
dann weiter in die Flammen stieren.
Bis zum Speisewagen werde ich
geführt. In breiten, goldenen Buchstaben steht »King Long«
zwischen den beiden Fensterreihen, und eine beleuchtete Holztreppe
führt hinauf zur Wagentür. In beiden Etagen brennt Licht, aber alle
Fenster sind mit Vorhängen und Gardinen verhängt.
»Rein da«, befielt Krimhild,
und ich klettere die Treppe hinauf, an bewaffneten Posten vorbei,
einer spuckt mir vor die Füße, einer ins Haar.
Im Wagen werde ich nach oben
geschickt, dann muss ich vor dicken Vorhängen warten. Krimhild
flüstert mit einem Typen, der in seinem roten Umhang märchenhaft
albern wirkt. Er nickt, tastet nach einer Lücke im Vorhang, steckt
seinen Kopf hindurch, taucht dann wieder auf. »Der König ist
bereit, Euch zu empfangen«, lallt er, und ich beiße mir auf die
Zunge, um nicht zu lachen.
Krimhilds Maschinenpistole
schiebt mich durch den Vorhang.
Auf der anderen Seite erwartet
mich tatsächlich ein König. Er trägt einen schwarzen Anzug,
goldene Krawatte, rote Schärpe auf blitzweißem Hemd, glatt rasiert,
fast dürr – dank Körperkraft hat er seine Macht nicht erlangt.
Ich stehe vor König Lang, Herrscher über ein paar Kilometer
linksseitiges Rheintal südlich St. Goar und einen Haufen
schießwütiger, spuckender Männer. Und dieser König hält mir die
Hand hin.
»Willkommen in meinem kleinen
Reich.«
Ich ergreife die Hand und
drücke sie, versuche, mich nicht in ein Märchen versetzt zu fühlen.
»Es ist mir ein Vergnügen ...
Hoheit.«
Ein Lächeln erobert die Züge
des Königs. »Du weißt, warum man dich hierher gebracht hat?«
»Nicht genau«, antworte ich.
»Es könnte damit zusammenhängen, dass ich mich mit Computern
auskenne.«
»Sehr richtig. Bist du in der
Lage, einen defekten Laptop zu reparieren?«
Unangenehme Frage. Ich verziehe
das Gesicht und entscheide mich für eine ehrliche Antwort. »Möglich.
Aber manchmal geht es nicht ohne Ersatzteile.«
Der König wischt meinen
Einwand beiseite. »Wir haben genug. Der Zug war voll davon. Viele
Geschäftsleute haben ihre Geräte zurückgelassen, als sie
ausgestiegen sind. Die meisten dieser Notebooks sind allerdings
Passwort-geschützt.«
Ich nicke. »Dann werde ich es
gerne versuchen.«
»Es wird nicht zu deinem
Schaden sein. Was wäre ich für ein König, wenn ich dir keine
Belohnung versprechen würde?«
»Ich ... weiß nicht.«
Der König übergeht meine
bescheidene Antwort und zeigt freundlich auf den Fußboden. »Du
darfst eine Nacht in unserem Harem verbringen.«
Jetzt weiß ich, was sich in
der unteren Etage hinter den Vorhängen verbirgt.
»Ein Harem?«
»Natürlich«, antwortet der
König. »Damit halte ich die Männer bei Laune. Das ist sehr
wichtig, sonst wäre ich nicht lange an der Macht.«
»Verstehe«, stimme ich
lächelnd zu. »Ihr seid ein weiser Regent. Wo habt Ihr gelernt, wie
man in Zeiten wie diesen Menschen führt?«
Jetzt ist es an dem König, zu
lächeln. »Simulationssoftware«, entgegnet er. »Deshalb brauche
ich ja auch so dringend den funktionierenden Computer.«
*
Die
kalte Luft zerschnitt meine Lunge in dünne
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