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Noware (German Edition)

Noware (German Edition)

Titel: Noware (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Post
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Scheiben, als ich die
Treppe zum Bahnsteig empor hastete. Jemand hatte die Betonwände mit
roter Sprühfarbe beschriftet: »NoWAre« stand da, immer wieder, bis
der Flasche die Luft ausgegangen war. Ich kannte den Schriftzug: Er
war von Jo. Er hatte das Wort in irgendeinem Computerspiel
aufgeschnappt und schrieb es seitdem an jede Wand, solange die Farbe
reichte. Was das Wort bedeuteten sollte, hatte er mir nicht erklären
können. Es sei »cool«, hatte seine Antwort auf meine entsprechende
Frage gelautet. Was Jugendliche cool fanden, konnten Erwachsene
allerdings noch nie besonders gut nachvollziehen – ich bildete in
dieser Hinsicht keine Ausnahme.
    Oben warteten nur wenige
Pendler. Eine hochhackige, geschminkte Frau umarmte sich selbst in
der Kälte. Ein Rentner-Ehepaar saß auf Koffern und schimpfte; es
ging um vergessene Magenpillen, Mitbringsel für die erbärmlichen
Enkel und um das verpasste Flugzeug nach Lanzarote.
    »Halten Sie endlich Ihre
Klappe«, sagte die geschminkte Frau plötzlich.
    Die kahle Fläche inmitten des
weißen Rentner-Haarkranzes verfärbte sich leuchtend rot. »Was
fällt ...«
    »Haben Sie in den letzten
Stunden etwa ein Flugzeug starten sehen?« Die Frau zeigte zum
Himmel, wo sonst im Abstand weniger Minuten Maschinen in Richtung
Wolken dröhnten.
    Alle Blicke folgten ihrem
Finger, der plötzlich zur Bahnsteigkante schwenkte. »Oder ist eine
verdammte S-Bahn gekommen?« Der Finger zuckte zum Bahnsteigdach.
»Oder auch nur eine verschissene Durchsage? Die S-Bahn hat aufgrund
von Verzögerungen im Betriebsablauf leider unbestimmte Zeit
Verspätung, vielleicht kommt sie auch gar nie mehr?«
    Der Rentner klappten den Mund
auf und dann wieder zu.
    Ich räusperte mich. »Darf ich
fragen, wie lange Sie schon hier auf die Bahn warten?«
    »56 Minuten«, sagte die
Rentnerin.
    »Anderthalb Stunden«, sagte
ein schlanker Anzugträger, der bisher nur verlegen an seiner
Krawatte gefummelt hatte.
    »Scheiße«, sagte die
Geschminkte.
    Ich nickte ihr zu. »Weiß
einer, wann der letzte Zug gefahren ist?«
    »Das Problem ist«, gab sie
zurück, »dass es wirklich der letzte, allerletzte Scheißzug
gewesen sein könnte.«
    In einiger Entfernung fuhr ein
Martinshorn vorbei. Der Ton wurde immer tiefer und leiser, dann
verstummte er.
    Der Anzugträger löste sich
von dem Lampenmast, vor dem er die ganze Zeit gestanden hatte. »In
welche Richtung müssen Sie? Wir könnten uns ein Taxi teilen.«
    Die Geschminkte schnaubte.
»Wenn Sie eins finden.«
    »Wir müssen zum Flughafen«,
verkündete der Rentner.
    »Was wollen Sie denn da?«,
fragte die Geschminkte ironisch. »Die teuren Läden in den Arkaden
plündern?«
    »Setzen wir uns doch neue
Ziele.« Der Anzugträger war offenbar in der Beratungsbranche tätig
oder befand sich in der Ausbildung zum Motivationsseminar-Guru.
    Die Geschminkte nickte mir zu.
»Gehen wir?«
    »Ein Taxi suchen?«
    »Was auch immer.«
    »Siehste Werner«, meldete
sich erstmals die Rentnerin zu Wort, »hätten wir gleich heut' früh
ein Taxi genommen.« Ihr Mann murmelte etwas unverständliches, dann
streckte sie ihm die Zunge raus. »Und deinen Hut hast du auch
vergessen«, ergänzte sie.
    »Ich heiße Agnes«, sagte die
Geschminkte, als wir die Treppe zur Straße hinunter gingen. Ich
nannte meinen Namen, dann zog ich mein Handy aus der Tasche. »Es hat
keinen Sinn«, sagte ich. »Immer noch kein Empfang.«
    »Das war der Plan«, sagte
Agnes.
    »Plan? Erzählen Sie mir
mehr«, forderte ich sie auf.
    »Nur, wenn wir einen Schritt
schneller gehen. Ist arschkalt an den Beinen.« Agnes trug einen
Rock, darunter eine Netzstrumpfhose. »Ich bin Projektleiterin
bei ... na, kennen Sie eh nicht. Wir machen in
Telekommunikation. Verschicken ein paar Millionen
Produktinformationen pro Sekunde.«
    »Und ich programmiere
Software, die Spam-Mails löscht.«
    Agnes verzog das Gesicht. »Dann
sind wir gewissermaßen Kollegen. Freut mich, dich kennenzulernen.«
    Wir überquerten die leere
Hölderlin-Straße, nachdem ein einsamer Porsche mit irrwitziger
Geschwindkeit über die Kreuzung gebrettert war. Aus einem der
Fenster über uns wummerte überlaute Techno-Musik.
    »Von was für einem Plan hast
du gerade gesprochen?«, hakte ich nach.
    Agnes sah sich nach allen
Seiten um. »Immer noch kein Taxi.« Sie zeigte nach links. »Wenn
wir hier lang gehen, kommen wir an einen Platz, wo die Straßenbahn
hält. Vielleicht fährt die noch.«
    Ich nickte. Mir lief die Nase,
aber ich hatte kein Taschentuch.

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