Nox Eterna - Die ewige Nacht der Anne Oxter
brachte sie schließlich doch noch heraus. Seine Augen sahen sie weiter unverwandt an, und Tom Shipe sagte:
„Sehen wir uns heute Abend?“ Er lächelte geradezu unwiderstehlich. „Ich wollte dir doch dieses Buch vorbeibringen ...“
„Um sieben?“
So schnell hatte sie nicht mit einer Wirkung gerechnet.
12. Januar 2010
Der Zauber hatte tatsächlich gewirkt – oder aber Anne bildete sich das nur ein und Tom Shipe hatte ganz von selbst Interesse an ihrer Person entwickelt. Auf jeden Fall war aus Annes Schwärmerei mit oder ohne Hilfe von Nox Eternas Krähenzauber eine gefährliche Konstellation entstanden. Tom Shipe würde Anne den neuen Roman vorbeibringen, hatte sie auch am Vormittag in der Schule noch einmal angesprochen, sich den abendlichen Termin bestätigen lassen.
Er kam, Annes Mutter öffnete.
„Hallo, Mrs. Oxter, Tom Shipe mein Name, ich arbeite in der Schulbibliothek und bringe hier etwas für Ihre Tochter!“ Er trug das Buch wie einen Schutzschild vor sich her, die Rechtfertigung für seinen Besuch. Nein, Mrs. Oxter fand ihn nicht unsympathisch, spürte aber auch entfernt eine Gefahr, hatte eine Ahnung, die sie beunruhigte.
„Treten Sie doch ein!“ Sie wollte ihn zu Annes Zimmer führen, aber die lief ihm schon entgegen. Die Art und Weise, wie ihre Tochter den Gast begrüßte, verstärkte Mrs. Oxters Befürchtungen. Seit wann kannte ihre Tochter diesen Mann?
Sie setzten sich an den Schreibtisch und blätterten in dem neuen Buch, erleichtert darüber, nicht über einen Gesprächsanlass nachdenken zu müssen.
„Es spielt in Berlin“, begann Tom Shipe. „Und es ist wunderbar …“
„… finster!“ ergänzte Anne. Sie verstanden sich.
Als Tom Shipe gegangen war, saß Anne auf dem Sofa in ihrem Zimmer und war einfach glücklich. Er hatte sie zuhause besucht, hatte mit ihr geredet, jede Faser seines Körpers voller Aufmerksamkeit. Er hatte sich viel zu lange aufgehalten, allein mit Anne in ihrem Zimmer. Anne jubelte innerlich. Zoe Hassleton hatte keine Chance mehr, da war sie sich sicher.
Sie konnte ihre Freude nicht lange genießen, denn ihre Mutter hatte bereits bemerkt, dass Annes Besucher nicht aus pädagogischem oder bibliophilem Interesse kam.
„Das schlage dir aus dem Kopf, das hat keine Zukunft! Du bist noch nicht einmal sechzehn. Der Mann ist um Jahre älter als du! Daraus wird nichts Gutes!“ sagte sie, und Anne wusste, dass sie recht hatte.
Dennoch rebellierte sie innerlich gegen die Klarsicht der Mutter – und fürchtete sich vor einem Traum, der ihr deshalb wieder Schaden zufügen konnte. Sie musste, so seltsam diese Vorstellung klang, mit Nox darüber reden. Sobald ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, war ihr klar, dass ihre geistige Gesundheit in Gefahr war. Welcher gesunde Mensch redet nachts im Traum mit seinem personifizierten Bösen? Doch in dieser Nacht geschah nichts, Anne schlief traumlos, Nox hat keine Gelegenheit für eine Schandtat.
13. Januar 2010
Obwohl Anne wusste, dass es ihr nicht gelingen würde, Tom Shipe für sich zu gewinnen, verbrachte sie mehr Zeit als nötig in der Bibliothek. Vor ihr auf dem alten hölzernen Lesepult lag ein mathematisches Fachwerk mit zahlreichen Eselsohren und hinein gekritzelten Anmerkungen, Thema Kurvendiskussionen. Anne hatte keinen Blick für seinen Inhalt, keinen Nerv für Parabeln und ihre Schnittpunkte mit der x-Achse. Offenbar hatte der Zauber von Nox auch auf sie gewirkt, vermutete sie, um sich im nächsten Augenblick selbst infrage zu stellen. Anne, du verrücktes Weib, da gibt es keinen Zauber, du hast dich einfach verliebt, und in den Träumen, die du dir in diesem Zusammenhang erlaubst, spielt diese boshafte Fantasiegestalt Nox Eterna keine Rolle, da geht es um ganz andere Dinge.
Unvermittelt stand Tom hinter ihr, beugte sich über sie, um ihr ins Ohr zu flüstern.
„Gibst du mir deine Nummer? Dann sims ich dir was.“
Was für eine Frage! Nur zu gern, wollte sie am liebsten rufen, ich gebe dir alles, was du willst, ich will dich umarmen und ...
„Hmm“, lautete ihre tatsächliche Antwort. Sie hatte Mühe, ihren Stift ruhig zu halten, schrieb ihre Telefonnummer ein wenig krakelig oben auf die aufgeschlagene Seite des Mathematikbuchs, reichte es dann zu Tom weiter mit den Worten:
„Seite 113, oben rechts.“
Tom lächelte. Anne wäre fast gestorben vor Aufregung. Er hatte ihre Nummer! Sie war sich sicher, dass ihr an
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