Nox Eterna - Die ewige Nacht der Anne Oxter
anziehend auf sie wirkte – und darüber staunte sie selbst.
„Spielen wir Scrabble?“ fragte sie, auch, weil ihnen so überraschend der Gesprächsstoff ausgegangen war. Sie wusste nicht mehr, hatte ihnen ihr Gefühl der Trauer oder die gegenseitige Attraktion die Sprache verschlagen? War Annes Interesse an Tom einseitig? Sie spürte, dass der Magnetismus zwischen ihnen von Sekunde zu Sekunde wuchs, und das beunruhigte sie …
Wenn ich jetzt nicht irgendetwas ganz anderes tue, falle ich ihm um den Hals, hatte Anne gedacht, und das kam ihr unpassend vor. Da war ihr eben das Scrabble-Spiel eingefallen. Warum hatte sie nicht an Dame oder Schach oder Monopoly gedacht oder noch einfacher, warum war sie nicht ins Haus gegangen, um etwas zu trinken oder zu essen zu holen? Sie ärgerte sich über ihre spontane Äußerung, konnte aber nicht mehr zurück.
Mit dem Spiel lief sie zurück in den Garten. Wie automatisch bewegten sich ihre Hände, ihre sauberen Hände, der Spielplan glitt auf den Tisch und die Buchstaben leuchteten hell in der Sonne.
„Ich habe übrigens gehört, dass diese Scrabble-Buchstaben sich für ein ausgesprochen unterhaltsames Orakel-Spiel eignen“, sagte Tom, als sie mit dem Aufbau fertig war. „Man könnte zum Beispiel in den Buchstaben meines Namens nach Bedeutungen suchen …“ Er legte die passenden Buchstaben
im Deckel des Spiels aus. Anne schreckte zusammen, war einen Augenblick sprachlos. Woher kannte er ihr Buchstaben-Orakel? Ahnte Tom etwas?
„Ach nein“ sagte sie dann. „Halten wir uns lieber an die üblichen Regeln.“ Das musste sie vor weiteren Überraschungen retten.
„Das habe ich mir gedacht!“ sagte Tom und lächelte verschmitzt. „Wir hätten sicher großartige Dinge herausgefunden! Vielleicht später einmal …“ Er schob den Deckel des Spiels beiseite.
„Sicher“, entgegnete Anne matt.
Er kannte sie schon gut, davon war Anne überzeugt. Sie gewann, die Buchstaben und Worte flogen ihr nur so zu. Dass etliche Buchstaben – die seines Namens – fehlten, weil Tom sie ja im Deckel des Spiels beiseite gelegt hatte, fiel nicht auf. Anne fand einfach immer genau den Vokal oder Konsonanten, den sie gerade brauchte. Es war ein magisches Spiel, Tom hatte keine Chance. Und genau das hatte sie jetzt gebraucht, ein paar glückliche Minuten, einen kleinen Erfolg in diesem Spiel nach den allgemein gültigen Regeln.
Hätte sie an diesem Abend, nachdem sie Tom verabschiedet hatte und nachdem sie die Scrabble-Buchstaben ein wenig achtlos auf dem Tisch zu einem Häufchen zusammen geschoben hatte, um sie später einzupacken, noch einmal in den abseits liegenden Deckel des Spiels hineingeschaut, so hätte sie sehen können, in welcher ganz und gar nicht zufälligen Reihenfolge sich die Buchstaben des Namens TOM SHIPE angeordnet hatten, ohne, dass irgendjemand etwas dazu getan hätte:
Und dieses Mal blieb kein Buchstabe ungenutzt zurück.
Impressum
Autor: Damian Raye
Textliche Mitarbeit: Elisa Ulien
Verlag: Selbstverlag
Fotos: Birgitta Petershagen, Köln
Hersteller: Amazon
Titel: Die ewige Nacht der Anne Oxter
© Juni 2013 Damian Raye
Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und realen Handlungen sind nicht beabsichtigt, sondern rein zufällig.
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