Nox Eterna - Die ewige Nacht der Anne Oxter
sie fast jeden Tag. Er hielt ihre Hand, hörte ihr zu, verfolgte auch ihre Gespräche mit Nox aufmerksam, auch wenn er nur eine Hälfte der Dialoge hören konnte. Er gab als einziger Besucher keine lebensklugen Ratschläge – das half wirklich. Auf die ständig wiederholte Floskel ihrer Mutter …
„Wenn es dir erst einmal wieder besser geht, werden wir …“
… konnte sie verzichten.
10. Oktober 2010
Es war vertrackt. Die behandelnde Medizinerin, eine erfahrene Fachärztin für Psychiatrie namens Dr. Beth East, die aber erst seit kurzem an der Klinik arbeitete, schien nicht zu begreifen, wo Annes Problem lag. Nox begleitete sie auf jedem ihrer Schritte, beschwerte sich über das jämmerliche Krankenhausessen, obwohl sie selbst nie etwas aß und machte Annes Anstrengungen an diesem Nachmittag in der Gesprächstherapie lächerlich, so dass sie schließlich weinend zusammenbrach. Da die gemeinsame Therapie keine Aussicht auf Erfolg hatte, so folgerte Dr. East, sollte Anne erst einmal für mehrere Tage allein bleiben und medikamentös behandelt werden.
Nox hielt auf der Aussichtsplattform am Fuße ihres Schlosses Hof. Diese war einfach in den kahlen Fels gehauen worden, hatte keine Mauer oder sonst eine Einfassung, eine schroffe Felskante ragte ins Leere. Stellte man sich an deren Rand, schrie einem von unten ein dunkler, gähnender Abgrund entgegen. An seinem Boden waren vereinzelte Lichter zu sehen, aber dunkler Rauch verhinderte eine wirkliche Klarsicht.
Nox hatte es sich auf einer steinernen Liege bequem gemacht, lag auf dunkelgrauem Fels lässig ausgestreckt und lies sich das fahle Licht ins Gesicht scheinen. Als Anne zu ihr trat, öffnete sie träge die Augen.
„Du bist es!“ begrüßte sie ihre gute Hälfte. „Du kommst im richtigen Augenblick!“
Anne lief auf sie zu und blieb kurz vor der Liege stehen, Nox hätte nach ihr greifen können. Die Zauberin blickte zu ihr auf.
„Ich komm gerade richtig? Wozu?“ Anne traute sich kaum zu fragen, die Antwort, die sie bekommen würde, schreckte sie, ohne dass sie ihren genauen Wortlaut kannte.
Nox richtete sich auf, streckte sich ein wenig und trat dann mit elegantem Schritt an den Rand der Plattform. Erst jetzt fiel Anne auf, dass sie ein schwarzes Kleid trug, dessen Ärmelsäume mit schwarzem und weißem Fell besetzt waren. Sie betrachtete die Pelzapplikationen lange und mit sichtlichem Wohlgefallen, indem sie ihre Arme provokant langsam in Annes Gesichtsfeld bewegte.
„Du ...“ Annes schluckte, ihr fehlten die Worte. Ihre Augen zeigten eine Mischung aus Wut, Trauer und Erschrecken, Nox war ihr Blick nicht entgangen. Sie lächelte.
„Gefällt es dir? Haben unsere beiden Lieblinge so nicht eine wundervolle neue Existenzform gefunden?“
„Ich habe dich heute zu einem kleinen Experiment… oder genauer gesagt zu einer Demonstration gebeten.“ Damit drehte sie sich in Richtung Ausblick und hielt plötzlich Terox Enna in Händen. „Von der Wirkung meiner Feuerkugeln konntest du dich ja bereits überzeugen, als ich diesen jämmerlichen Tempel zerstört habe.“
Wieder entfuhr dem Stab ein Flammenstrahl, der sich über ihren Köpfen zu einer glühenden Kugel verdichtete.
Nox betrachtete ihr Werk mit Wohlgefallen.
„Allerdings habe ich mir heute ein Ziel gewählt, dessen Zerstörung einen gewissen Aufwand bedeutet.“
„Ich habe dich nicht darum gebeten, jemanden zu bestrafen!“ sagte Anne bestimmt. „Gut, manchmal bestrafst du Menschen, die mir etwas angetan haben. Aber niemand hat mir etwas getan, ich brauche deine Rache nicht.“
Ihre Worte zeigten bei Nox keinerlei Wirkung. Deshalb wiederholte sie sich mit mehr Nachdruck:
„Nox! Niemand hat mir etwas getan!“
„Aber Anne, meine liebe kleine Anne!“ Die Zauberin wandte sich zu ihr, ihr Blick war mitleidig, fast herablassend. „Begreife doch: Hier geht es doch längst nicht mehr nur um dich!“
„Du bist ein Teil von mir und hast meinen Befehlen zu gehorchen!“ versuchte Anne. „Was ich nicht will, kannst du nicht tun!“
„Nein?“ Nox lachte hässlich. „Du irrst dich, ich habe mich von deinen kleinen, bürgerlichen Fesseln befreit! Ich bin die Größere von uns beiden, und hier geht es nicht um Strafe oder Rache, sondern um eine Kunst, um meine Kunst. Um die Perfektion der einzig reinen, natürlichen Form der Existenz! Die Vollendung des Chaos!“
„Das ist gegen die Regeln!“ Anne
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