Nr. 13: Thriller (German Edition)
Hüfte. Sie hatte Augen wie Eiswürfel, schön und selten, von einem so hellen Blau, dass die Iriden fast durchsichtig wirkten. Er hegte keinen Zweifel daran, dass sie im Gerichtssaal der Gegenpartei einen Blick schenken konnte, der unmissverständlich klarmachte, sie würde kämpfen, bis der Gerechtigkeit Genüge getan wurde. Jetzt jedoch, am Grab der Haas, schaute sie eher melancholisch, als täte es ihr leid, die Totenruhe zu stören.
„Bereit?“, fragte sie.
Daniels Stimme klang kratzig. „So bereit, wie man in diesem Fall sein kann.“
Sie nickte den Mitarbeitern des Bestattungsunternehmens zu. Die beiden Männer versuchten, die Schrauben mit Flügelgriff an den Sargdeckeln zu lösen, schafften es jedoch nicht. Es sah martialisch aus, als sie Brecheisen zu Hilfe nahmen. Sie hebelten die Deckel auf – das laute Knacken störte die Ruhe auf dem Friedhof und ging Daniel durch Mark und Bein –, hoben sie hoch und trugen sie zum Weg, auf dem sie sie hinlegten.
Dr. Sachs reichte Tigerbalsam herum, nahm aber selbst keinen. Er beugte sich über den geöffneten Sarg. Seine Stirn krauste sich. Dann hockte er sich hin. Er setzte seine Brille auf, die beschlug. Nachdem er sie mit dem Saum seines Pullovers poliert hatte, neigte er sich so weit über die erste Leiche, dass sein Kopf beinahe in der mit hellem Stoff ausgekleideten Buchenholzkiste verschwand. „Das ist ja merkwürdig.“
36. KAPITEL
„Es tut mir so unendlich leid! Ich mag dich, Kobold. Ich mag dich wirklich. Bitte, verzeih mir.“ Roman Schäfers Worte verfolgten ihn. Sie surrten ständig durch seinen Hinterkopf wie ein Schwarm Hornissen, der ihn verfolgte. Benjamin versuchte, sie mit lauter Musik zu übertönen. Er hämmerte Abi-Stoff in sein Hirn, aber nichts davon blieb hängen, weil Roman seine ganze Gedankenwelt einnahm.
Es war hart. Ben fühlte sich wie auf Entzug. Dabei ging es doch gar nicht um Dope, sondern um einen Mann. Einen Kerl, der ihn mit der Hand dazu gebracht hatte, in seiner Hose zu kommen.
Gestern in der Schule hatte Ben sein Käppi selbst im Unterricht aufbehalten, weit ins Gesicht gezogen, obwohl die Lehrer das nicht mochten. Er bewegte sich durch die Straßen Kölns wie ein Geist in der Hoffnung, dass niemand ihn wahrnahm. Weil sie ihn bedrängten, schaute er für eine halbe Stunde bei seinen Eltern in Rodenkirchen vorbei, die mitten in der Renovierung des neu erworbenen Häuschens steckten. Auch sie sprachen ihn nicht auf eine Veränderung an. Dabei hatte Ben den Eindruck, jeder müsste ihm ansehen, was passiert war, dass er anders war und nie wieder der Alte sein würde. Es gab kein Zurück. Aber nichts. Die Welt drehte sich weiter und nahm kaum Notiz von ihm.
Durch diese Erkenntnis entspannte er sich ein wenig.
Noch cooler würde er durch einen Blunt werden. Das erste Mal seit das Rat Pack zerfallen war, verspürte er wieder den Drang zu paffen. Er saß an diesem frostigen Februarmorgen in der Straßenbahn und meinte förmlich, den süßlichen Duft von Marihuana zu riechen, aber das bildete er sich natürlich nur ein. Seine Hände zitterten, als er die Schultasche auf den Schoß hob, damit sein Sitznachbar nicht merkte, dass er einen Steifen hatte. Schon wieder. Seine Gedanken brauchten Roman nur zu streifen und schon war er hart. Sogar die Akkorde der Akustikgitarre in einem Song erregten ihn. Eben hatte er lediglich einen Blick auf die Zeitung der Frau, die ihm gegenübersaß, geworfen und spürte ein Kribbeln in seinen Hoden – bis er die Überschrift des Artikels zu Ende las: „Das Böse in der Nummer 13: Ermittlungen gegen den kastrierten Engel.“
Warum berichten die Medien immer noch über die Hausgemeinschaft der Pädophilen? dachte Benjamin aufgebracht. Wieso lassen sie die Männer nicht endlich in Ruhe? Sie wollen doch auch nur geliebt werden.
Wollten sie das wirklich? Hatte Roman ihn nicht vielmehr ausgenutzt? Vielleicht geilte er sich daran auf, Benjamin zu verführen, ihn dazu zu bringen, sich von ihm anfassen zu lassen und später von ihm das Gleiche zu verlangen.
Enttäuscht stöhnte Benjamin und erntete schiefe Blicke von den Personen, die um ihn herum saßen. Ben merkte selbst, dass das Stöhnen erregt geklungen hatte. Er wusste nicht, was er denken und fühlen sollte. Alles in ihm drehte sich, er war verwirrt und ständig den Tränen nah.
Roman hatte nicht versucht, ihm ein schlechtes Gewissen einzureden, hatte nicht behauptet, es sei seine eigene Schuld gewesen, dass es zu dem Handjob gekommen
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