Nr. 13: Thriller (German Edition)
Für ihn spielte es keine Rolle, ob sie besonders klein oder besonders groß war, genauso wie er hoffte, dass es irgendwann keine Rolle mehr spielen würde, dass er im Rollstuhl saß. „Sie macht einen verdammt guten Job und ist aufgeschlossener als andere der Anzugträger.“
„Du willst Gefahr im Verzug melden, stimmt’s?“
„Wenn ich ihr die Dringlichkeit verdeutlichen kann, hat sie die rechtliche Grundlage, die Exhumierung selbst anzuordnen, und in meinen Augen dürfen wir keine Zeit verlieren. Wenn es tatsächlich Noel Haas war, den Gloria gestern gesehen hat, bedeutet das, er läuft allein und ziellos, wahrscheinlich verwirrt, durch Köln. Wäre alles in Ordnung mit ihm, hätte er sich längst an einen Erwachsenen gewandt oder jemand hätte ihn aufgegabelt. Doch nichts.“ Daniel pochte mit der Faust auf die Armlehne. „Er muss dort draußen durch den Schnee und die Kälte irren und könnte kurz vor dem Erfrieren sein. Wie alt ist er inzwischen, sieben oder schon acht?“
„Ich werde herumtelefonieren, ob ein desorientierter Junge bei einer der Polizeiinspektionen abgegeben wurde.“ Sofort griff Leander den Hörer.
„Und ich rufe Zur an.“ Eine Fahndungsmeldung konnten sie erst herausgeben, wenn sie sicher wussten, ob der Leichnam in dem Grab der Familie Haas tatsächlich Noels war.
Vorsätze waren löblich, doch nicht den Dreck wert, der an den Rollstuhlrädern hing, wenn man sie nicht einhielt. Früher Feierabend zu machen konnte er vergessen. Daniel hoffte, dass Marie an diesem Abend länger im Musical Dome arbeiten musste, aber die Chancen standen schlecht. Vor der Premiere waren Überstunden die Regel. Nachher bekam Marie die Chance, sie abzubauen. Vor seinem geistigen Auge sah er sie alleine auf dem Sofa sitzen. Immer wieder schaute sie auf die Uhr und zur Eingangstür. Oder traf sie sich mit jemandem? Einem anderen Mann? Eifersucht packte ihn so fest am Schlafittchen, dass ihm der Nacken wehtat. Vielleicht kamen die Schmerzen jedoch auch von dem ständigen Sitzen. Durch die Ermittlungen hatte er seine Übungen vernachlässigt. Eventuell war die Idee mit dem Work-out-Rollstuhl gar nicht so dumm. Dann könnte er jederzeit und überall trainieren.
***
Glücklicherweise sah Lioba Zur ausreichende Anhaltspunkte für die Notwendigkeit einer Exhumierung und ordnete sie an. Am nächsten Morgen wartete sie auf dem Friedhof neben Daniel, Leander und Dr. Karl Sachs, einem Mitarbeiter der Gerichtsmedizin, und zwei Männern vom Bestattungsunternehmen, das mit der Überführung der Leichen zum Institut für Rechtsmedizin beauftragt war, einige Schritte neben dem Grab und schaute einem Minibagger zu. Mühsam kratzte die Schaufel Schicht für Schicht die gefrorene Erde ab. Sobald die Särge freigelegt und herausgehoben worden wären, würde Dr. Sachs einen ersten Blick darauf werfen und dann die Leichname zur Sektion zum Universitätsklinikum am Melatengürtel mitnehmen.
Zur zitterte vor Kälte, Daniel vor Aufregung. Leander dagegen, eingepackt in seinen Hightech-Parka, wie ihn, da war Daniel sicher, auch Arktisforscher trugen, beobachtete das Geschehen gelassen.
Eigentlich hätte Stefan Haas als Angehöriger über die Exhumierung informiert werden müssen. Da er jedoch im Verdacht stand, etwas mit dem Unfall, bei dem seine Ehefrau und sein Sohn angeblich starben, zu tun zu haben, tat man das nicht. Inzwischen war er ansprechbar, wie Daniel bei einem Anruf im Krankenhaus am Morgen erfuhr.
Obwohl die Ausgrabung eine gefühlte Ewigkeit gedauert und der Friedhofsgärtner, der den Bagger bediente, zahlreiche Flüche von sich gegeben hatte, setzte er die Särge, einen nach dem anderen, erstaunlich sanft neben dem ausgehobenen Loch ab.
Daniels Aufregung wuchs. Er brauchte viel Kraft, um seinen Rolli durch den Schnee näher heranzufahren. Schweiß lief seinen Rücken hinab.
Lioba Zur neben ihm zog ihre Wollmütze tiefer ins Gesicht und ihren Schal enger um ihren Hals. Auch sie war nervös. 14 Tage alte, verkohlte Leichen mit Knochenbrüchen sah man nicht jeden Tag. Zum Glück, dachte Daniel und schob die Hand unter seine Jacke, um die aufkeimende Übelkeit zu mildern, indem er über seinen Bauch rieb.
Die Staatsanwältin stand, war aber genauso groß wie Daniel, was er als wohltuend empfand. Normalerweise musste er zu seinen Gesprächspartnern aufschauen und sie auf ihn hinunter, wodurch er sich klein und unmündig fühlte. Ihre weizenblonden Haare wellten sich über ihren Rücken bis hinab zu ihrer
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