Nr. 13: Thriller (German Edition)
Leentje zu, dass Marie den Anhänger anfasste und näher betrachtete. Die Träne war von einem bemerkenswert hellen Blau, klar, ohne Einschlüsse oder Luftblasen. Mit der Fingerspitze fuhr sie die Konturen entlang, eine sorgfältige Arbeit. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es sich um einen natürlich vorkommenden Stein handelte. Denn wer würde schon von einem Diamanten so viel abschleifen, damit eine Tränenform entstand? Der finanzielle Verlust wäre zu groß oder das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmte nicht mehr. Handelte es sich etwa um Zirkonia? Oder synthetisch hergestelltes Moissanit? Warum tat Leentje dann so, als handelte es sich um ein Schmuckstück, das so kostbar war, dass sie es unter dem Pullover trug? Oder gab es einen anderen Grund dafür?
„Wissen Sie, woher der Stein stammt? Australien vielleicht, Russland oder Afrika?“
„Schweiz. Wir haben ihn in Chur anfertigen lassen. Ich meine, ihn gekauft. Nur die Fassung konnten wir uns selbstverständlich aussuchen.“
„Nicht in Deutschland oder Ihrer Heimat?“
„Sagte ich doch schon.“
„Tut mir leid. Ich habe mich nur gewundert. Ihr Mann hat einmal gesagt, die Schweizer wären zu dumm, um Käse zu machen, sonst würden sie keine Löcher reinmachen.“
„Das hat er nicht so gemeint. Seine Scherze sind manchmal etwas ruw .“
„Seiner Auffassung nach machten nur Idioten in der Schweiz Urlaub, weil dort alles doppelt so teuer sei.“
„Wir waren dort nicht im … Wir sind … Es war eine berufliche Reise.“
„Für den Musical Dome?“
„ Nee. Nicht beruflich. Was erzähle ich da? Freunde haben dort geheiratet. Friedrich blieb nichts anderes übrig, als mitzukommen.“
So, wie sie sich wand, war das eindeutig gelogen. Warum verheimlicht sie den wahren Grund für die Reise?
Sie mochte Leentjes holländischen Akzent. Sie fand ihn genauso süß wie die Niederländerin selbst mit ihren strahlenden Augen, die so hell waren wie der Diamant, den dünnen, in dezentem Apricot nachgezogenen Lippen und den kleinen Händen, die sich besitzergreifend um den tränenförmigen hellblauen Stein schlossen, sobald Marie ihn losließ.
In letzter Sekunde erhaschte Marie einen Blick auf die Gravur am Anhänger. In memoriam amantem – in liebevoller Erinnerung.
Thijs.
Friedrich Schusters Worte aus dem letzten Sommer drängten in ihr Bewusstsein: „Als Geste meiner tiefgehenden Liebe zu Thijs. Ich stelle mir vor, die Fassung ist seine Hand, die meine Tränen hält. Noch immer sehe ich mein Baby vor mir, wie er auf der Wickelkommode liegt. Er strampelte mit nacktem Po herum und quiekte vor Lachen, weil ich ihn kitzelte, während ich ein Fingerspiel mit ihm machte. Seine Haut war so weich. Ich vermisse den kleinen Mann so sehr!“
Mochten sich die Schusters auch beide das gleiche Juwel gekauft haben, das sie an ihren entführten Sohn erinnerte, so beantwortete das nicht die Frage, warum Vinzent Quast ein identisches Schmuckstück besaß.
Marie lag auf der Zunge zu fragen, ob Leentje Vincente kannte. Aber sie wollte sie nicht wissen lassen, dass sie noch jemanden mit solch einer Kette gesehen hatte, da diese Person mit Kriminellen zusammenarbeitete. Falls die Schusters in unlautere Geschäfte verwickelt waren und Dreck am Stecken hatten, durfte Marie sie keinesfalls vorwarnen, dass sie sich an ihre Fersen geheftet hatte.
Und Leentjes Geheimniskrämerei schien Maries Verdacht zu bestätigen. Etwas stank gewaltig.
Außerdem konnte sich Marie keinen Reim darauf machen, warum ein Edelstein die Eltern an ihren Säugling erinnern sollte. Ein Stofftier, ja, ein Mobile oder eine Trinktasse, aber doch kein Diamant.
„Ein schönes Andenken an Ihren Sohn“, sagte Marie so einfühlsam wie nur möglich.
Nun, da Leentje direkt auf Thijs angesprochen wurde, erstarrte sie förmlich. In ihre Augen trat jedoch keine Verletzlichkeit, sondern sie riss sie unnatürlich auf.
So angestarrt zu werden irritierte Marie. Sie hoffte, keinen Schock ausgelöst zu haben. „Es tut mir leid. Ich hätte nicht davon anfangen sollen. Das Thema geht Ihnen verständlicherweise noch nah.“
„Geen probleem.“
„Ein Kind zu verlieren, darüber kommt man wahrscheinlich nie hinweg.“
„Man muss nach vorne schauen, um nicht daran kaputtzugehen.“
Marie hasste es, dieses Gespräch zu führen. Es war nicht richtig, alte Wunden aufzureißen. Sie sah, wie Leentje mehrmals schwer schluckte, und hätte sie am liebsten in ihre Arme gerissen und vorgeschlagen, nicht mehr
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