Nuhr, Dieter
»Die Glocke« schwingt mir heute noch im Ohr.
Heute würde es wahrscheinlich »Der Klingelton« heißen. Es wäre ein Teil unserer
Popkultur und würde bald als Remix erscheinen, bei irgendeinem kruden Berliner
Rapperlabel, in einer Übersetzung von Thilo Sarazzin - vielleicht dann unter
dem Titel »Der Muezzin«.
Schillers schönstes Drama war? Richtig! »Die Räuber«, ein
Theaterstück über die Hypo Real Estate. Der Mann war ein echter Visionär, immer
den Fortschritt im Blick, ohne das Überlieferte zu vergessen. Ein wahrer
Klassiker! Eine Mischung aus Vergil und den Toten Hosen, nur in galant.
Und er war immer mittendrin in der Szene. Sein Kumpel da,
der Ludwig van Dingsbums, der hatte die Lizenz zum Komponieren, ein echter
Notenguru, und welche Worte wählte er? Dem Fritze seine: »Freude schöner
Götterfunken, Tochter aus Delirium ...« Ein Hammer!
Bei »Wilhelm Teil« kommen selbst Schweizer auf Tempo. Und
»Kabale und Liebe« wird heute sogar von Mario Barth im Stadion aufgeführt. Da
bleibt ab und zu mal der Versfuß auf der Strecke. Aber egal! Das ist die
Freiheit, die uns nicht zuletzt der Schillernde erkämpft hat.
Schiller war ja ein ausgesprochen freiheitsliebender
Mensch, in Maßen, aber immerhin ... natürlich hat sich die Freiheit seit
Schillers Zeiten gewandelt. Was als Klassik begann, ist heute Anarchie und
Ekstase. Dem Friedrich hätte das gefallen. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
Man weiß es nicht. Aber jetzt kann's ihm auch egal sein. Das ist der Vorteil,
wenn man 250 ist. Da kriegt man so eine gewisse Wurschtigkeit. Wunderbar.
Die Welt ist schön ... 10. Dezember 2009
Es ist ein Elend allerorten, aber wir leben in einer
Mediengesellschaft, und wenn alles in Ordnung ist, steht es nicht in der
Zeitung. Ich habe jedenfalls noch nie eine Zeitung gesehen, auf der vorn die
Schlagzeile verkündete: »Nix passiert - alles easy. Bitte haben Sie
Verständnis, dass unsere Zeitung heute leer ist. Malen Sie die Seiten doch
selber aus - mit einem Buntstift Ihrer Wahl.« Das würde die Leserschaft als
Zumutung empfinden. Ich bin da anders. Ich würde sofort zugreifen. Nicht nur,
dass ich gerne male. Ich freue mich einfach, wenn ich mich nicht aufregen muss.
Neulich war ich beispielsweise in Mali. Denen geht es viel
schlechter als uns. Aber sie haben gute Laune. Sie verstehen es, zu leben und
zu genießen. Da wird Musik gemacht, gestritten, gelacht. Aber in keiner Zeitung
stand: »Bei den Zwiebelstampferinnen aus Songo ging es diese Woche wieder
besonders lustig zu!«
So werden wir in die mediale Depression geführt. Bei uns
schlägt man die Zeitung auf, und nach einer halben Stunde ist man völlig
fertig. Und man denkt, das Leben sei ein Jammertal.
Wer ein paar Jahre mit unseren Medien verbracht und alles
besorgt miterlebt hat, vom Rinderwahnsinn über die Schweinegrippe bis zum
Giraffenhusten, der glaubt irgendwann, dass das Gute in dieser Welt
ausgestorben ist wie fliegende Saurier oder höfliche Kinder. Und irgendwann
glaubt man wirklich: Die Welt ist schlecht.
Insgesamt gesehen ist das nicht ganz richtig. Noch nie
haben auf dieser Welt so viele Menschen auf so hohem Niveau gegessen,
getrunken und gefeiert. Und dann steht man da mitten in Mali und denkt: »Die
Welt ist schön.« Sagen Sie das nie bei uns. Ruckzuck liegen Sie in der
Landesklinik, am Tropf, vollgepumpt mit Depressiva. Wir haben die positive
Weltsicht den Geisteskranken und volkstümlichen Musikanten überlassen. Das ist
bitter.
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