Nukleus
Einath, Canopus, Alphard, Dubhe, Kochab, Eltanin, Hyaden, Peacock, Markab und Achernar sind – im Uhrzeigersinn gesehen – am weitesten vom Mittelpunkt des Sonnensystems entfernt.«
»Und die am nächsten an der Sonne gelegenen …«
»… sind Alpha Centauri, fast ein Zwilling unserer Sonne, dann Sirius, Vega, Rasalhague, Castor und Pollux …«
Was bedeutet das?, dachte Ella. Warum hat Anni diese Zeichnung angefertigt und mit den Daten der beiden Selbstmordanschläge in Berlin verbunden? Was weiß sie darüber? »Das ist irgendwie verrückt«, murmelte sie.
»Ja«, sagte Tori. »Vor einiger Zeit kam Anni zu mir und sagte, sie hätte da etwas entdeckt, von dem sie nicht wusste, was es bedeutete. Sie wollte wissen, ob Einath, Canopus, Alphard und noch ein paar andere wohl Namen von Sternen sein könnten und welche Unterschiede zwischen ihnen bestünden.«
»Entfernung und Nähe«, sagte Ella leise. »Hat sie dir gesagt, warum sie das wissen wollte?«
Tori schüttelte den Kopf. »Ich habe sie gefragt, aber sie hat nur gesagt, es wäre besser, ich wüsste das nicht. Ich habe sie noch nie so aufgewühlt gesehen. So beunruhigt.«
»Wann war das?«
»Ein paar Tage, bevor sie verschwunden ist. Hat sie das da – das auf dem Display – gezeichnet?«
»Ich nehme es an.«
»Und die Zahlen? Der Text?«
»Es ist ihre Schrift, aber das hat nichts zu sagen«, erklärte Ella. »Es handelt sich jeweils um ein Datum, an dem etwas passiert ist.« Oder noch passieren wird.
»Dann heißt das da hinter Alphard 17. Oktober?«
»Ja.«
»Ist ja merkwürdig«, rief Tori. »Am 17. Oktober hat der neue Film von Michail Premiere, das wird eine ganz große Show in der Royal Festival Hall mit anschließender Party in einem der angesagtesten Klubs. Sein erster richtiger Film, hat er mir erzählt.« Sie zog ein längliches, edel aussehendes Kuvert zwischen den Büchern auf dem Tischchen hervor. »Hier, die Einladung.«
»Wer ist Michail?«
Tori antwortete nicht.
»Dieser Mann, dem du im Fitness-Studio wieder begegnet bist?«
»Woher weißt du davon?«
»Du hast es auf Annikas AB gesprochen …«
»Das geht nur sie etwas an, oder? Sie und mich. Niemand sonst.«
»Ja. Entschuldige.«
Tori zuckte mit den Schultern. »Na ja, ist ja auch egal. Darauf kommt es jetzt nicht mehr an.«
»Worauf kommt es denn an?«
»Dass man seinen Schnitt macht, oder? Dass man auf seine Kosten kommt. Und das bin ich ja, nicht?« Sie lachte gequält. »Ja, ich bin echt auf meine Kosten gekommen. Er hat mich immerhin ordentlich durchgefickt. Von vorn und von hinten. Ohne Kondom. Die Produktion wollte das so. Kein Kondom. Nicht zur Nachahmung empfohlen. Michail hatte damit kein Problem. Er hatte auch kein Problem damit, dass er Aids hatte. Oder das süße kleine Geheimnis für sich behielt, indem er mit einem gefälschten Test arbeitete. Das Problem hatte ich, als die Krankheit bei mir diagnostiziert wurde und ich nicht mehr arbeiten konnte.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber wie es so schön heißt: Was einen nicht umbringt, macht einen härter.«
Ella schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht, Tori. Es bringt uns um, wenn es uns hart macht. Je härter es dich macht, desto mehr bringt es dich um. Die Toten sind am härtesten.«
Ihr Kopf sank herab, sank nach vorn, und etwas tropfte aus ihrem Gesicht auf das aufgeschlagene Sonnensystem in ihrem Schoß. Sie schlug die Hände vors Gesicht. Zwischen ihren Fingern ragten Haarsträhnen hervor wie blonde Federn. »Jede Nacht, wenn ich nicht schlafen kann …« Sie sprach durch die Finger. Die Federn zitterten. »Wenn ich spüre, wie sich die Krankheit in mir ausbreitet …« Die Federn zitterten stärker. »Wie das Virus langsam, aber sicher … mein Immunsystem zersetzt … dann würde ich am liebsten … am liebsten aufstehen, eine Pistole nehmen und ihn umbringen. Ihn und alle, die so sind wie er. Und danach mich selbst, damit ein für allemal Schluss ist.«
Sie war keine gute Schauspielerin. Sie ließ die Hände sinken, breitete sie aus und imitierte ein höhnisches Grinsen. » Please allow me to introduce myself, I’m a man of wealth and taste. I’ve been around for a long, long year, stole many a man’s soul and faith.«
›Sympathy for the Devil‹?
»Passt doch, oder nicht? Wir haben das bei dem letzten Dreh mit Michail immer gespielt. Der Regisseur hat das aufgelegt für eine Szene, in der ich vom Teufel verführt wurde, von einem unglaublich schönen Typ. Anni wollte, dass ich ihr
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