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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Segen. »Ich hab meinen Vater nie richtig kennengelernt. Er hat uns sitzengelassen, meine Mutter und mich, als ich drei war. Meine Mutter war noch sehr jung, deswegen bekamen wir einen Vormund, ich und meine kleine Schwester, Julie, die gerade erst geboren worden war. Der Vormund wollte uns zur Adoption freigeben, aber meine Mutter weigerte sich. Die Leute, die uns anschauen gekommen waren, wollten auch nur Julie, mich nicht.«
    Tori nahm einen Schluck von ihrem Tee. »Stattdessen steckte der Vormund mich in ein Heim. Da war es schrecklich, man wurde schon bestraft, wenn man nur weinte, ja, sogar wenn man nur traurig guckte. Wenn man morgens nicht sofort aufstand, oder wenn man irgendwo zu spät kam oder einen Knopf nicht richtig zugemacht hatte. Für alles wurde man bestraft. Am schlimmsten fiel die Strafe aus, wenn man versucht hatte, wegzulaufen. Für die kleinen Sünden kriegte man nur Essensentzug oder Stubenarrest oder man musste eine Stunde in der Ecke stehen. Aber für größere gab es Schläge. Dann mussten sich alle im Kreis aufstellen, und das Mädchen, das bestraft werden sollte, hatte in die Mitte zu treten, und da wurde sie dann von einer Erzieherin mit Weidenzweigen verdroschen oder mit einem großen Kochlöffel.«
    Ihre Worte überstürzten sich, und sie setzte die Tasse wieder ab, um nichts zu verschütten. »Die schlimmste Strafe habe ich mit vier gekriegt. Ich wurde auf dem Dachboden ohne Licht in eine Holz kiste gesperrt, die so klein war, dass man darin nur kauern konnte, mit einem Schloss vorn an der Klappe, und die Erzieherinnen waren draußen und spielten mit verstellten Stimmen Gespenster, Hexen oder den bösen Wolf, manchmal sogar den Teufel. Dabei rüttelten sie an der Kiste oder schlugen darauf, aber ich wusste nicht, dass sie es waren. Ich habe wirklich geglaubt, dass es Hexen und Gespenster waren. Dann schlichen sie aus dem Raum und ließen mich in der Kiste«, mitten im Satz schnappte sie nach Luft, »die ganze Nacht, ohne etwas zu essen oder zu trinken und ohne dass ich aufs Klo gehen konnte. Ich hatte immer Angst, dass die Ungeheuer noch da draußen waren, und die Schwestern kamen nicht zurück, die ganze Nacht nicht.«
    Toris Stimme änderte jetzt mehrmals schnell hintereinander die Tonlage. Sie klang abwechselnd hell und dunkel, laut und leise, schrill und tief, und Ella überlegte, woran sie das erinnerte.
    »Ich sehnte mich nach meiner Mutter«, sagte Tori, »und ich dachte, dass die kleine Julie es bestimmt besser hatte als ich. Ich erfuhr erst später, dass sie gestorben war, kurz nachdem ich ins Heim gekommen war. Weil es dann keinen Vormund mehr gab, holte meine Mutter mich tatsächlich zu Ostern nach Hause. Sie hatte einen neuen Freund, der wollte, dass ich nachts bei ihnen im Bett lag. Erst wollte sie das nicht, aber er schlug ihr mit der Faust ins Gesicht, immer wieder, obwohl sie blutete. Er zog sie an den Haaren und schrie, bis ich es nicht mehr ertragen konnte. Danach lagen wir alle im Bett, und er besorgte es ihr, brutal, bis sie weinte, aber ich verstand überhaupt nicht, was sie taten, es machte mir nur Angst. Als meine Mutter schlief, war ich an der Reihe. Er streichelte mich, überall. Das machte mir noch mehr Angst. Es war fast so schlimm wie in der Kiste auf dem Dachboden mit dem Teufel und der Hexe draußen im Dunkeln. Wenn ich mich daran erinnere, wie ich klein war, fällt mir ein, dass ich immer nur Angst hatte. Meine ganze Kindheit lang. Immer nur Angst.«
    »Haben Sie Ihrer Mutter erzählt, was ihr Freund in der Nacht getan hatte?«
    »Ob ich es ihr erzählt habe?« Tori sah Ella wieder an. »Ja, und sie ist zu ihm gegangen, und er hat sie wieder geschlagen, so lange, bis ich gesagt habe, es wäre eine Lüge gewesen, ich hätte alles nur erfunden, aber dafür hat er sie noch mehr geschlagen. Du glaubst dieser kleinen Lügnerin mehr als mir, hat er geschrien. Irgendwann kauerte sie nur da und weinte und blutete, und das war meine Schuld. Ich habe mich vor sie geworfen und den Mann angeschrien, schlag mich, schlag mich, nicht sie, ich bin doch die Lügnerin, doch das hat er sich nicht getraut.«
    Mit jedem Wort öffnete sie die Tür zur Hölle weiter. »Mama hat es dann nicht mehr ausgehalten und ist weggelaufen, wie blind, und die ganze Nacht nicht zurückgekommen, und er ist auch verschwunden. Ich blieb allein, und ich weiß noch, wie ich fürchtete, dass der Mann meine Mutter draußen in der Dunkelheit töten würde. Ich legte mich aufs Sofa, aber ich konnte

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