Nukleus
nicht schlafen, obwohl ich die Augen zumachte. Ich lauschte – auf das Schlagen von Autotüren, auf Schritte, auf den Schlüssel im Schloss. Ich dachte, wenn du bis dreißig zählst und die Augen dann wieder aufmachst, ist sie wieder da. Ich zählte bis dreißig und machte die Augen auf, und sie war nicht da. Auch als ich bis fünfzig zählte, war sie nicht wieder da. Oder hundert, ich zählte bis hundert, mit geschlossenen Augen, zitternd vor Angst, aber sie kam nicht zurück. Es war die schlimmste Nacht meines Lebens, schlimmer als die in der Kiste. Ich dachte, sie kommt nie wieder, nie mehr.«
Tori schwieg. Sie setzte die Tasse an den Mund, trank aber nicht. »Irgendwann bin ich eingeschlafen. Als ich aufwachte, war es schon hell. Ich schlug die Augen auf und sah mich um, und da lag sie, auf dem Boden vor der Couch. Wie um mich zu bewachen. Aber sie sah erbärmlich aus, dreckig, mit verkrustetem Blut bedeckt, die Haare strähnig. Aber für mich … für mich war es der schönste Anblick der Welt. So ein glücklicher Morgen! Ich saß nur da und sah sie an. Als sie aufwachte, fragte ich sie, ob ich ihr helfen sollte, den Mann umzubrin gen, und ich bin sicher, wir hätten es wirklich getan, wenn er je wieder aufgetaucht wäre. Aber das tat er nicht. Ich glaube, das hat ihm das Leben gerettet.«
Sie holte tief Luft, und jetzt trank sie, einen kleinen Schluck nur. »Trotzdem musste ich zurück ins Heim. Man ließ mich nicht wieder zu ihr, nur in den Ferien. Jedes Mal hatte Mama einen neuen Mann, und viele von denen schlugen sie, aber keiner so wie der erste. Meine Mutter war jetzt sehr stolz auf mich, darauf, wie schön ich wurde. Das ist meine schöne Tochter, sagte sie.«
Ohne es zu merken, wechselte sie jetzt fast fließend Lautstärke und Tonlage, von hell zu dunkel, von leise zu laut und zurück, während die Musik im anderen Raum im Bluesrhythmus vor sich hin stampfte.
»Inzwischen«, redete sie weiter, »inzwischen hatte ich begriffen – ich war ja schon fünf –, dass mich die Männer am liebsten nackt sehen wollten. Deswegen zog ich mich bei jedem neuen Mann halb nackt aus und fragte: Findest du mich schön? Und wenn sie ja sagten, war ich glücklich. Das Schlimmste ist, wenn niemand einen sieht. Wenn niemand einen hört. Wenn man in einer Kiste steckt. Wenn niemand einen schön findet. Dann wird man geschlagen.«
Und deswegen, dachte Ella, muss man gesehen werden, auf der großen Leinwand, dem Fernseher, dem Computerbildschirm, und es kann nicht genug Kameras, nicht genug Fenster und Gucklöcher geben, die zeigen, wie man geliebt wird, weil man schön ist; durch die Licht in die dunkle Kammer fällt. Sie hatte das Gefühl, zuzuschauen, wie eine Seele, ein Herz sich wand und schrie, aber es war nicht die Seele oder das Herz eines Erwachsenen, sondern die eines verletzten Kindes, die in dieser schönen Frau eingeschlossen waren.
Plötzlich klingelte das Telefon. Tori zuckte so heftig zusammen, dass der Tee in ihrer Tasse überschwappte. Sie sah Ella wie entschuldigend an. »Ich muss ans Telefon. Arbeiten«, sagte sie.
In dem Zimmer nebenan sangen noch immer die Stones. Vielleicht sollte ich nicht hierbleiben, dachte Ella; vielleicht wäre es besser, einfach aufzustehen und zu gehen.
Gleich darauf verstummte Mick Jagger, und sie konnte Tori am Telefon stöhnen hören.
3 7
Ella sah zu der afrikanischen Maske an der Wand auf, die sie mit seelenloser Grausamkeit anzustarren schien. Sie dachte an das, was sie gerade gehört hatte und dann an das, was Nerin ihr in Berlin erzählt hatte, und sie fragte sich, was schlimmer war. Offenbar hast du doch ziemliches Glück gehabt, dachte sie.
Sie stand auf und ging in den Gang hinaus. Von einer Minute auf die andere war sie so müde geworden, dass sie kaum noch die Augen offen halten konnte. Die Tür zu Toris Studio war geschlossen; sie konnte nur das an- und abschwellende Stöhnen hören, begleitet vom leisen Surren eines batteriebetriebenen Geräts. Daneben gab es nur noch zwei andere Türen, eine zum Bad und die andere zu einem Raum, der halb Schlafzimmer und halb Büro zu sein schien.
Dieser Raum stand der Küche an Unordnung in nichts nach: Es gab eine Stehlampe, deren orangefarbener Kreppschirm an eine Pyramide erinnerte, und einen ausgebleichten Perserteppich, bedeckt mit verstreuten Kleidungsstücken. An der Decke hing ein Mobile aus bunten Glasprismen. Am Fenster stand ein mit grobem weißem Leinen bezogenes Schlafsofa, auf dem ein halbes Dutzend
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