Nukleus
Leben, Freundschaft, Liebe, Hilfe, Kraft, Zauber, Schönheit, Hoffnung: alles verwandelte sich in Zahlenströme, die durch Algorithmen geleitet wurden. Beistand, Trost, Ermutigung oder Solidarität wurden aufgrund von Programmen zugeteilt, die auf Schlüsselwörter, ferndiagnostisch erstellte Problemanalysen und Begriffskombinationen reagierten. Unbekannte LifeBook-Freunde schrieben, chatteten oder twitterten dem Hilfesuchenden wie Figuren in einem interaktiven Videospiel, und über kurz oder lang wurden die Hilfesuchenden selbst zu Figuren in so einem Spiel. Das war der erste Schritt.«
Ella versuchte, sich Anni vorzustellen, wie ihr Traum vor ihren Augen in einen Albtraum verwandelt wurde. Sie wünschte, sie wäre in diesen Wochen bei ihr gewesen, hätte ihr die Freundin sein können, die sie gebraucht hatte.
»Weiter«, drängte Cassidy. »Und vielleicht könnten Sie die Taktzahl mal ein bisschen erhöhen.«
Gershenson schob die Unterlippe vor wie ein trotziger Junge. »Als Annika und ihr junger Kollege Danny Schmidt sich weigerten, mit dem Leid ihrer Mitglieder Profit zu machen, warf Grigoriev Schmidt kurzerhand hinaus und setzte Annika ein Ultimatum. Er verlangte, dass sie mithalf, Hypnose-Zirkel, Trance-Reisen, Analyse-to-go, die Academy of Solace und anderen esoterischen Quatsch zu installieren. Sie weigerte sich. Die Spannungen nahmen zu. Trotzdem wurde aus LifeBook zusehends eine der am schnellsten wachsenden Firmen im Netz, auf die sogar Apple, Facebook und Google ein Auge warfen. Die Angebote waren Grigoriev allerdings noch nicht hoch genug. Annika wehrte sich weiter gegen die Veränderung an ihrem Konzept, so lange, wie ihre Kräfte es erlaubten. Aber nach einem epileptischen Anfall, der sie fast umgebracht hätte, musste sie aufgeben und akzeptierte ein Abfindungsangebot von Grigoriev, mit dem sie ihm auch alle Rechte an LifeBook übertrug. Da war die Firma bereits über hundert Millionen Pfund wert.«
Cassidy zog die Augenbrauen hoch wie ein Stummfilmstar und gab ein anerkennendes Zungenschnalzen von sich.
»Und jetzt legte er erst richtig los«, der Professor schien selbst Feuer zu fangen, »LifeBook sollte eine Kirche werden, mehr noch, eine ganze Religion. Außerhalb von LifeBook kein Heil. Er wollte nicht nur so groß wie Facebook werden, er wollte Facebook schlucken. Dabei kopierte er schamlos das Zuckerberg-Prinzip, die User in völlige Abhängigkeit zu bringen, damit sie mehr und mehr Zeit auf der Plattform verbrachten. Eine Freundschaft, die nicht auf LifeBook stattfindet, ist keine Freundschaft. Eine Liebe, die nicht auf LifeBook dokumentiert wird, ist keine Liebe. Was nicht im LifeBook stattfindet, am LifeTree hängt, wird nicht gelebt. Grigorievs Ziel war die totale Transparenz der Mitglieder, kein blinder Fleck, kein Geheimnis, völlige Berechenbarkeit, der perfekte totalitäre Staat im Netz, gib mir alle deine Daten, und ich gebe dir das Gefühl eines gelungenen Lebens: mehr Freunde, als du dir jemals erhoffen durftest, mehr Bestätigung, mehr Ablenkung, mehr Spaß. Nach und nach soll LifeBook jedes authentische Erleben ersetzen, dir alle sozialen Erfahrungen anbieten, die für dich errechnet worden sind, die du brauchst – die Bücher, die du lesen sollst, die Musik, die du hören sollst, die Freunde, die du haben möchtest, die dir wiederum weitere Bücher, Musikstücke, Filme und Freunde empfehlen, die du auch haben, sehen und hören sollst. Denkst du wirklich noch, es könnte ein Leben außerhalb von LifeBook geben? Eine Heimat, die sich nicht um den LifeTree erstreckt? Weißt du denn nicht mehr, wie weh es tun kann, auf dich allein gestellt zu sein?«
»Wir haben’s begriffen«, sagte Ella.
Gershensons Begeisterung flackerte und erlosch, eine Gasflamme, die zu schnell runtergedreht worden war. »Es hätte Annika fast umgebracht, als sie sah, was Grigoriev aus ihrer Idee machte, dabei war all das noch nichts gegen das, was noch kommen sollte. Was Colin Blain ihr erzählte. Damals sahen wir uns zweimal in der Woche, denn sie musste darüber sprechen, immer und immer wieder. Wie nützlich LifeBook hätte werden können. Was sie noch geplant hatte, um mit immer größerer Sorgfalt und Genauigkeit auf die Nöte ihrer Schützlinge eingehen zu können. Aber es lag ihr noch mehr am Herzen, nämlich wie das Internet unsere Kultur, unseren Alltag, unseren Verstand und unsere Seele verändert und wie wir trotzdem Ideale und einen moralischen Kompass bewahren können. Sie wollte unsere
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