Nukleus
Welt nicht kampflos an Apple, Facebook oder Google und ihren postmodernen Kapitalismus verlieren. Es geht um den Menschen der Zukunft, hat sie immer wiederholt, es geht um das Menschbleiben. Wie ein Mantra. Sie sagte …«
Er wandte sich jetzt direkt an Ella, und sie erkannte in den Worten, die er sprach, sofort ihr Freundin wieder. »Sie sagte: Wir können heute mit Google-Earth auf dem Computerbildschirm fremde Länder und Städte genauso aus dem Weltraum anfliegen wie unsere eigene Straße, das Haus, in dem wir wohnen. Wir können in Sekundenschnelle bei Amazon mit einem Mausklick alles bestellen, jedes Buch, jeden Film, jedes Musikstück. Jedes Event können wir uns ansehen oder anhören, ohne aus der Wohnung gehen zu müssen. Wir können mit dem Handy den Nachthimmel abscannen und sehen auf dem Display die Sterne mit ihren Namen klarer und farbiger als mit dem bloßen Auge. Wir merken uns nichts mehr, weil wir es ja blitzschnell bei Google finden können, das heißt, wir vertrauen unser Gedächtnis, vielleicht bald das Wissen der ganzen Welt, einem Konzern an, der die gesuchten Informationen für uns vorsortiert, und zwar gemäß dem Profil, das seine Computer anhand vorheriger Suchanfragen von uns erstellt haben. Und manche bietet er uns gar nicht mehr an.«
Ella sah Anni vor sich, sah die Empörung in ihren Augen, den heiligen Zorn, hörte ihre Stimme.
»Sie sagte, unsere Gehirne degenerieren, sogar unsere Seelen ver kümmern schon. Sie erzählte mir, dass sie eine achtzehnjährige Patien tin habe, die kein Mitgefühl mehr kenne; die nie gelernt habe, fremdes Leid zu spüren. Sie berichtete von Jugendlichen, die mehr emotionale Gehirnaktivität entwickeln, wenn ihr iPhone klingelt, als wenn sie ihre Mutter sehen. Und sie hat sich gefragt: Wer kümmert sich um die Seele, die nicht gescannt, digitalisiert und von Algorithmen kultiviert werden will? In einem Kunstkosmos, in dem alles transferierbar, synchronisierbar, herunterladbar, tragbar, übersetzbar sein soll, kann sie nur zerfasern und am Ende verloren gehen. Wenn der Mensch der Zukunft niemals mehr allein ist, wenn er sich nie mehr langweilen darf oder in einer fremden Stadt verirren kann, wie, verdammt nochmal, soll dann irgendetwas Menschliches aus ihm werden? Wir opfern unsere Individualität, unsere Geheimnisse wie kichernde Teeniemädchen mit Smartphones in der Hand auf den Altären von vier Konzernen, die das Netz unter sich aufteilen und damit einen großen Teil der Zukunft – unserer Zukunft. Das heißt, jetzt sind es noch vier, bald vielleicht nur noch drei oder zwei.«
Oder einer, dachte Ella.
»Nach einiger Zeit« – Gershenson sprach jetzt langsamer, er wirkte müde – »als sie angefangen hatte, sich zu erholen, kehrte Annika zum Status quo ante zurück und behandelte wieder einzelne Patienten, jetzt gegen Cash und in ihrer neuen Wohnung, die sie sich von der Abfindung gekauft hatte. Etwa zu diesem Zeitpunkt muss es gewesen sein, dass jemand sich unbemerkt in die Server von Life- Book einhackte und anfing, die ungeheure Datenmenge zu kopieren, um sie für einen ganz neuen Zweck zu benutzen. Dem Hacker ging es nicht darum, den Mitgliedern etwas zu verkaufen, er verfolgte keine kommerziellen Interessen. Er suchte Seelen, dachte aber gar nicht daran, sie zu kaufen. Das musste er auch nicht. Sie boten sich ja selbst an. Alles, was er tun musste, war, sie zu finden, indem er seine eigenen, speziell für diese Aufgabe entworfenen Netze in das Datenmeer von LifeBook warf. Verzweifelte Seelen. Trostlose Seelen. Seelen, die er mit dem Versprechen auf Linderung über die Academy of Solace unbemerkt in sein sogenanntes ›Panopticon‹ locken konnte. Ich muss Ihnen nicht Mephisto zitieren, oder? Ich bin der Geist, der stets verneint … Natürlich rede ich jetzt aus der Erkenntnis der letzten Tage. Als er anfing, sah es ja allenfalls so aus, als hätte Grigoriev sich doch noch besonnen und beschlossen, dass Geld nicht alles sei …«
»Vielleicht ist er ja der Teufel, den wir suchen«, warf Cassidy ein. »Nikolai Grigoriev.«
»Dann wäre er inzwischen in die Hölle zurückgekehrt«, sagte der Professor trocken. »Er ist nämlich von einem russischen Gericht we gen Steuerhinterziehung zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt worden, weil er so dumm war, in die alte Heimat zu reisen, um seine sterbende Mutter in Sankt Petersburg aufzusuchen. Aber die Academy of Solace und das Panopticon existieren weiter, genau wie all die anderen Firmen und
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