Nukleus
Epilepsie festgestellt worden, und sie wusste, dass sie nicht so weitermachen konnte wie bisher, wollte aber nicht darauf verzichten, Menschen in seelischen Nöten Beistand zu leisten. Danny war jung genug, um die Gelegenheit beim Schopfe zu packen und mit ihr zusammen das Konzept eines sozialen Netzwerks zu entwickeln, das nicht gewinnorientiert ausgerichtet sein sollte. Diese Idee war völlig neu, so was gab es noch nicht, und deshalb fand er wieder Unterstützung bei der namenlosen Heuschrecke mit sozialem Gewissen, die darauf bestand, die ganze Zeit im Hintergrund zu bleiben. Sie – er – stellte ihnen eine Million Pfund zur Verfügung, um das Netzwerk, das sie zuerst SoulBook nannten, zu entwickeln. Der unbekannte Investor hielt 66,666 Prozent der Anteile an LifeBook, Danny und Annika je 16,666.«
Gershenson kniff die Augen zusammen wie jemand, der sich ganz genau erinnern wollte. »Anfangs war die Zielsetzung, Probleme, die von vielen geteilt wurden, durch gemeinsame Aktionen einer Lösung für alle zuzuführen. Dabei machten sie den Aufschrei des Nachrichtensprechers Howard Beale aus dem Film Network zu ihrem Slogan: We’re as mad as hell and we’re not going to take this anymore! Vielleicht haben Sie den Film gesehen und erinnern sich, dass Beale dort behauptete, er habe das Antlitz Gottes erblickt, bevor er sich am Ende vor laufender Kamera umbringt. LifeBook, damals noch SoulBook, wie gesagt, begann mit Spendenaufrufen zur Rettung des Regenwaldes, Petitionen gegen Kinderarbeit in Indien oder die Spekulation mit Nahrungsmitteln an den Finanzmärkten, also das, womit alle anfangen. Aber dann fanden sie heraus, dass die Menschen mehr und mehr auch mit persönlichen Problemen zu ihnen kamen und Rat oder Hilfe bei kleinen und großen privaten Katastrophen suchten. Sie änderten den Namen und entwickelten Programme, die jetzt Menschen mit ähnlichen Sorgen bündelten oder zueinanderführten und ihnen Lösungsansätze anboten: Lösungen für ein besseres Leben.«
Er öffnete die Augen wieder und beugte sich vor. Kurz wanderte sein Blick zu den Fenstern seiner Wohnung auf der anderen Straßenseite hinauf. Sie waren dunkel. »Dabei«, sagte er, »kam auch zum ersten Mal die von der Quantenmechanik abgeleitete Idee der Fernwirkung zum Tragen. Nach und nach wurde aus dem anfangs unerlässlichen Trial-and-Error-Prinzip der LifeTree entwickelt, damit Annika anhand der zur Verfügung gestellten Daten Rat und Behandlungsvorschläge präziser auf den jeweils Hilfebedürftigen zuschneiden konnte. Gewissermaßen von der Gruppentherapie zur Einzel sitzung. Ironischerweise wurden zur selben Zeit ja auch in der Psychotherapie erste Versuche mit Sitzungen ohne Praxisbesuch, nur per Telefon oder E-Mail, ausprobiert.«
Er ließ sich wieder zurücksinken, vielleicht weil Cassidy sich gerade zu ihm umgedreht hatte und ihm seinen Whiskeyatem ins Gesicht blies. »Der Ärger begann, als der Londoner Investor seine Anteile an einen russischen Internet-Milliardär verkaufte. Nikolai Grigoriev war eine Heuschrecke ohne soziales Gewissen und setzte immer und überall auf aggressives Wachstum. Er hat LifeBook gekauft, weil es eine Neuheit darstellte, ein Unikat. Jetzt wollte er möglichst schnell aus einem Nischenphänomen eine Weltmarke machen, bevor Konkurrenten auftauchten. LifeBook sollte einen festen Platz im Seelenleben der Nutzer auf der ganzen Welt bekommen und am Ende, natürlich, einen lukrativen Börsengang hinlegen. Statt einen Pool kostenintensiver Übersetzer zu hegen, ließ der Russe Übersetzungsprogramme entwickeln, denn bis jetzt konnten Profile und Accounts nur in einer deutschen und einer englischen Version genutzt werden. Er verkaufte die Daten der Mitglieder an Werbekunden, ließ Algorithmen und Computercodes auf seinen Namen eintragen und schützen und gründete Franchise-Netzwerke in China, Indien und Russland. Neue Programmierer schrieben ganz andere Algorithmen, die Annika nicht mehr verstand. Jeden zweiten Tag gab es Konferenzen, manchmal in Grigorievs Büro in der City, manchmal per Video.«
Eine knappe Drehung des linken Handgelenks, der Professor warf einen verstohlenen Blick auf seine Uhr. »Diese Konferenzen begannen Annika Angst zu machen. Sie bekam Magenschmerzen, wenn sie das Wort Konferenz nur hörte. Es ging nicht mehr um Beistand oder Trost für Menschen in Bedrängnis, sondern nur noch um Geld, Marketing, neue Mitglieder – je mehr Mitglieder desto mehr Daten, desto höhere Werbeeinnahmen.
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