Nukleus
Hauptstraße bekränzten.
Sie ging auf dem Bahnsteig von einem Toten zum anderen, von einem Verletzten zum nächsten, hörte sie stöhnen .
Sie sah durch die Nacht zu den roten Lichtern hinüber.
Sie sah das Blut.
Sie hörte Julian sagen: Ich möchte mich gern umziehen. Oder ist noch etwas? Dafür hätte ich ihm eine knallen sollen, dachte sie. Mindestens. Aber leider liebe ich ihn, und bisher dachte ich, dass er mich auch liebt.
An dem Tag, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren, hatte sie sein Blut gesehen. Es war vor einem Jahr gewesen, nach ihrer Rückkehr aus Paris. Sie hatte einen Patienten in der Notaufnahme der Charité Mitte abgeliefert, einen Fan von Hertha Berlin, der von einem Feuerwerkskörper getroffen worden war. Wenn ich schon mal hier bin, kann ich doch auch nach Jonas sehen, hatte sie gedacht; er müsste inzwischen operiert worden sein. Ohne den Jungen wäre sie verloren gewesen, ohne den Tumor in seinem Kopf, der ihn nicht schlafen ließ. Jonas hatte die Männer gesehen, die sie umbringen wollten, nachdem sie ihre Patientin mitten in der Nacht aus der Klinik entführt hatten. Aber das war eine Geschichte, an die sie nicht denken wollte, nie mehr.
Sobald sie den Hertha-Fan mit den Verbrennungen abgeliefert hatte, war sie zur Kinderstation hinaufgefahren, Zimmer 25, daran konnte sie sich noch erinnern. Als sie das Zimmer betreten hatte, war ein Arzt bei Jonas gewesen. Sie kannte Julian nicht, aber natürlich hatte sie von ihm gehört, jeder hatte das. Sie hatte ihn sich nur älter vorgestellt; man dachte nicht, dass jemand, der so einen Ruf als Neurochirurg hatte, noch so jung sein konnte, unter vierzig.
Sie legte den Film Der große Doktor Auster in ihrem Kopf ein und spielte ihn ab, gut ausgeleuchtet, ohne Ruckeln und Wackeln, mit sau berem Ton und kaum geschnitten: Jonas lag auf dem Rücken in seinem Bett, der kahl rasierte Kopf war zur Hälfte von einem Verband bedeckt, der bis über das rechte Ohr reichte. Er war allein bis auf den Arzt im offenen weißen Kittel auf der Matratzenkante des Nachbarbetts.
»Das ist ein Fuchs«, erklärte der Junge und deutete auf etwas, das sich über das Display seines Gameboys zu bewegen schien.
»Ah ja«, sagte der Arzt zögernd. »Verstehe.«
»Es sieht nicht aus wie ein Fuchs, oder?«
»Nein.«
»Das liegt daran, dass ich ihn verzaubert habe. Ich kann Wesen eine andere Gestalt geben. Ich kann auch Sachen explodieren lassen. Soll ich mal?«
»Vielleicht später.« Der Arzt wischte mit einem Finger über die Oberfläche eines iPads und fragte: »Du hast also keine Kopfschmerzen mehr? Kein Stechen im Ohr? Und du kannst wieder gut sehen?«
»Ja«, sagte Jonas. »Hören auch.«
Ella hatte die Tür leise geöffnet, aber nicht leise genug, denn jetzt drehte der Arzt sich um und sagte: »Bitte, keine Störungen während der Visite!« Sie sagte: »Tschuldigung!«, und war bereits wieder halb auf dem Gang, als der Junge sie an dem Oberkörper des Arztes vorbei erspähte. »Nicht weggehen!«, rief er mit seiner hellen Stimme. Das kleine, blasse Gesicht strahlte.
»Ich warte draußen«, sagte Ella.
»Sind Sie Jonas’ Schwester?«, fragte der Arzt, der sie erst jetzt wirklich wahrzunehmen schien.
»Sie ist meine Freundin«, erklärte Jonas. »Sie soll hierbleiben.«
»Wenn das so ist, dann bleiben Sie wohl besser«, sagte der Arzt zu Ella. »Ich bin Dr. Auster. Ich habe die Operation bei Jonas durchgeführt.«
»Er hat den Tumor aus meinem Kopf geholt«, sagte Jonas.
»Und der Welt damit den berühmtesten aller zukünftigen Erfinder von Computerspielen geschenkt«, kommentierte Ella.
»Ich habe es mir anders überlegt«, sagte der Junge. »Ich will jetzt Zauberer werden. Wie Harry Potter.«
»Und was wollen Sie werden?«, fragte der Arzt Ella mit einem amüsierten Zwinkern.
»Mir reicht das, was ich bin.«
»Ich kann Sie verzaubern«, sagte der Junge.
»Ich bin schon verzaubert«, sagte der Arzt und sah Ella an.
Plötzlich stach Ella der Hafer. Sie wusste bis heute nicht, woher das Gefühl gekommen war, das ihr von einer Sekunde auf die nächste praktisch den Verstand geraubt hatte, sodass sie nicht mehr wusste, was sie eigentlich sagte. »Wie war Ihr Name nochmal?«, fragte sie mit einem leichten Schwindelgefühl.
»Julian Auster.«
Sie trat einen Schritt auf ihn zu, blieb dicht vor ihm stehen und senkte den Blick auf seine Lippen. »Doch nicht der Julian Auster – der weltbekannte Gehirnchirurg und weit über Berlin und seine Vororte
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