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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Leitung, dann hustete jemand. Schließlich drang ein heisere, tiefe Männerstimme aus dem Lautsprecher: »Ärztin … Ärztin, was haben Sie gesehen? Haben Sie etwas gesehen, als Sie meine Shirin gefunden haben? Wenn Sie etwas gesehen haben, will ich das hören. Ich will hören, was Sie wissen. Wir werden alle aufspüren und töten. Jeden, der an diesem Anschlag beteiligt war, werden wir töten. Wir werden herausfinden, wer der Mann war, der sich in die Luft gesprengt hat. Wir werden herausfinden, wer dem Mann geholfen hat. Wer dem Mann den Befehl erteilt hat. Wer den Plan gemacht hat. Wir werden es herausfinden und sie töten. Allah wird uns helfen, meine Schneeflocke zu rächen. Es ist sein Wille, dass wir alle töten, die beteiligt waren. Und wenn die Polizei uns daran hindern will, werden wir auch die Polizisten töten. Und wir werden auch die töten, die Shirins Leben nicht gerettet haben. Wenn sie stirbt, werden viele sterben.«
    Ella spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog. Woher hat er meine Nummer, dachte sie, zum ersten Mal mit einem Anflug von Angst. Woher hat Halil Abou-Khan meine Nummer?

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    Ella ging in ihr winziges, fensterloses Arbeitszimmer und knipste die Schreibtischlampe an. Sie schaltete das iBook ein, dessen verstaubter Bildschirm ein paar Sekunden brauchte, bis sein von nebeligen weißen Schlieren durchzogenes Blau Betriebsbereitschaft zeigte. Ihre Augen fühlten sich wund an vor lauter Müdigkeit. Sie ging in den Eingangskorb ihres E-Mail-Programms und suchte die Nachrichten, von denen Annika auf dem Anrufbeantworter gesprochen hatte.
    Die letzte, die von Annikas Londoner E-Mail-Account [email protected] gesendet worden war, lag drei Wochen zurück. Ella klickte sie an, überflog sie und stellte fest, dass sie den Inhalt bereits kannte. Ohne Anrede – darauf verzichteten sie immer – stand da:
    Du errätst nicht, wen ich kürzlich wiedergesehen habe! Patrick! Genau – den Mann, dem ich alles verdanke, was ich heute bin … Es war hinter Harrods, gar nicht weit von meiner Wohnung. Erst dachte ich, mein Herz bleibt stehen. Dann habe ich gehofft, sein Herz bleibt stehen. Schließlich sind nur wir beide stehen geblieben und haben uns unterhalten, als wäre nichts gewesen.
    Er sagte, ich bedeute ihm noch immer etwas und dass er sich um mich sorgt. Ist das die Möglichkeit? Es hat mir glatt die Sprache verschlagen, vor allem, als er dann noch sagte, dass er mir verzeiht. ER verzeiht MIR. Der Pitbull verzeiht dem Kätzchen, dass er es zerfetzen musste. Ich dachte, ich kriege auf der Stelle einen Anfall, hatte die Tabletten schon in der Hand. Habe es aber geschafft, mit dem Hinknallen zu warten, bis er außer Sicht war. Hätte ich ihn damals bloß umgebracht – Annie, get your gun! Könntest du das nicht für mich übernehmen? Gemäß deiner alten Maxime: Alles, was du kannst, das kann ich viel besser?
    PS: Fritz the Cat ist tot. Bin sehr traurig. Ronin lebt noch. Offenbar machen’s Hunde mit Epilepsie länger als Katzen mit Diabetes. Aber Ronin sitzt jetzt dauernd am Fenster und schaut hinaus, als fühlte er sich hier nicht mehr sicher. Er spürt die Gegenwart des Abschieds. Ich bin überzeugt, wenn ich die Tür aufmache, ist er weg. Etwas Besseres als den Tod finden wir überall, erinnerst du dich? Soll ich das in »Dein Tier und das Jenseits« veröffentlichen?
    PPS: Trotz allem hatte ich das Gefühl, dass Patrick auf eine verquere Weise meinte, was er sagte. Er sah sogar anders aus, als ich ihn in Erinnerung hatte, ein bisschen wenigstens. Aber wenn man jemand nicht mehr liebt, sieht er dann nicht immer anders aus?
    Typisch Anni, in so einem Tonfall leichthin über eine Begegnung mit dem Mann zu schreiben, dem sie ihr tödliches Leiden verdankte. Ella erinnerte sich, dass sie sofort in London angerufen hatte, um ihre Stimme zu hören und sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Beim ersten Mal war sie nicht durchgekommen, beim zweiten Mal auch nicht. Während sie es weiter versucht und darauf gewartet hatte, dass die Leitung zustande kam, war ihr fast übel geworden vor Angst.
    Anni war ihre beste Freundin; war es schon gewesen, als sie zusammen Medizin studiert hatten, vom Moment ihrer ersten Begegnung an. Damals waren sie unzertrennlich gewesen, Anni, ihr Bruder Max und Ella. Es gab Fotos aus jener Zeit: Anni und Ella im Park der Humboldt-Universität, Anni und Ella am Wannseestrand, Anni und Ella auf einer Silvesterparty, bei einem Fahrradausflug in der Lüneburger Heide. Beide

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