Nukleus
vage Lust und dachte, dass sie sich begehren würde, wenn sie ein Mann wäre. Ihr Hals war lang, die Nase zart, der Mund, nun ja, lockend. Unter dem weißen BH erkannte der erfahrene Liebhaber Brüste, die einer Zwanzigjährigen gehören könnten. Ich wäre ein erfahrener Liebhaber, wenn ich ein Mann wäre, dachte sie.
An Tagen wie heute, an denen sie so viele Tote und Verletzte gesehen hatte, sehnte sie sich mehr als sonst danach, berührt zu werden, umarmt, gestreichelt, geküsst. Sie war wütend über den Mann, der sich den Sprengstoff umgeschnallt und ihn dann in der U-Bahn gezündet hatte; wütend über sich, weil sie nicht da gewesen war, um ihn daran zu hindern, weil sie immer erst auftauchte, wenn es zu spät war. Manchmal wünschte sie sich, vorher da zu sein, vor dem Moment, in dem etwas geschah. Bevor jemand den Notarzt rief, bevor sie ihre Arbeit tun musste, bevor sie Blutungen stillte, Wunden verarztete, klinisch Tote reanimierte.
Bevor sie vielleicht scheiterte.
Superdoc.
Das Telefon klingelte, aber sie ging nicht an den Apparat. Am Anfang hatte sie gar nicht gemerkt, dass sie so wütend war. Sie hatte erst die U9 Richtung Rathaus Steglitz und dann an der Berliner Straße die U7 Richtung Rudow genommen, und auf der Fahrt war sie in Gedanken noch mit Shirin und ihrem Vater beschäftigt gewesen, danach mit Shirin und Julian und schließ lich nur noch mit Julian, und da hatte sie angefangen, wütend zu werden.
Warum schon wieder ein Chirurg?, dachte sie und trank einen Schluck Chardonnay in der Küche. Den nächsten trank sie im Wohnzimmer und den dritten und alle weiteren, während sie in der Wanne lag. Warum lerne ich nichts dazu? Vor anderthalb Jahren erst Silvan, der größte Kardiologe aller Zeiten, jetzt Julian. Warum konnte ich nicht bei Max bleiben; warum habe ich nicht dafür gesorgt, dass es mit ihm klappte? Vielleicht wäre er dann noch am Leben.
Sie lag in der Wanne und trank, und als das Wasser kalt wurde, stieg sie heraus und trank im Wohnzimmer weiter. Sie nahm die Bilder der Toten und Verletzten vom Bahnsteig mit auf die schwarz bezogene Couch – nicht nur den Wein, auch das Blut, die Schreie, den Gestank. Sie saß im Dunkeln und zitterte.
Das Telefon klingelte wieder. Auch diesmal ging sie nicht dran. Der Anrufbeantworter, auf stumm gestellt, schaltete sich mit rot blinkendem Lämpchen ein. Das Lämpchen hatte schon vorher geblinkt. Sie hörte, wie die Bänder sich drehten, erst das mit dem Text, gleich darauf das für die Nachrichten. Vielleicht Julian, dachte sie, wer sollte es sonst sein?
Sie hatte den AB schon seit gestern Morgen nicht abgehört, weil sie einfach zu kaputt gewesen war. Sie war auch zu kaputt gewesen, um irgendwann in letzter Zeit die Wohnung aufzuräumen. Wer im mer die Chaostheorie erfunden hatte, musste es an einem Ort wie die sem getan haben, umgeben von verstreuten Schuhen, herumlie genden Kleidungsstücken, DVDs, CDs und Büchern. Auf dem niedrigen Marmorfensterbrett stand eine halb verdorrte Bonsaikiefer. Im Flur stapelten sich alte Zeitungen unter ungeputzten Nikes und regenfleckigen Gummistiefeln. Neben der Garderobe, die zu jeder Jahreszeit mit Winterklamotten überladen war, lehnte das Mountainbike an der Wand.
In einer Ecke des Wohnzimmers klafften nie fertig gepackte und auch nie wieder ausgepackte Umzugskisten, die sie nicht mehr brauchte, seit sie beschlossen hatte, doch in der Wohnung zu bleiben, in der sie sich nach dem Mord an Max eine ganze Zeit lang nicht mehr sicher gefühlt hatte. Dazwischen fand sich das Mobiliar eines Single-Daseins. Der lackierte Rattansessel. Der rote Nierentisch. Der ausgefranste Kelim auf dem von Stöckelschuhabsätzen zernarbten Parkett. Der Plattenschrank mit dem altmodischen Röhrenfernseher darauf.
Die Lamellen der Metalljalousien waren fast immer ein wenig heruntergelassen, nie ganz unten, nie ganz oben. Auf der anderen Seite des Hinterhofs befand sich ein Tanzstudio im obersten Stock des Rückgebäudes, und im Sommer schallte Jazzmusik zu ihr herüber. Ab und zu sah sie den jungen Tänzerinnen und Tänzern in dem großen, erleuchteten Raum zu und dachte, dass es schön sein musste, einfach nur zu tanzen, sein Leben lang. Wenn sie etwas getrunken hatte und die Musik ihr gefiel, tanzte sie mit, allein für sich, und es war ihr egal, ob jemand sie dabei beobachtete.
Von der Couch aus konnte sie über die Dächer sehen, auf die roten Positionslichter, die das Stahlgestänge des Gasometers jenseits der
Weitere Kostenlose Bücher