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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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nicht zurückgeschaut, jedenfalls nicht allzu oft. Aber jetzt fragte sie sich, ob es irgend etwas geändert hätte, wenn sie Julian nicht auf die Party begleitet hätte und danach nicht gleich mit ihm nach Hause gegangen wäre. »Rufen Sie mich auf dem Handy an«, hatte sie gesagt. »Heute Nachmittag. Jetzt muss ich in die Notaufnahme.«
    »Ich komme mit«, hatte Julian gesagt, und da war es dann geschehen: Plötzlich stand zwischen all den Ärzten, Schwestern und Verletzten ein blutender, betrunkener Fan vom 1. FC Union vor ihnen und ging brüllend mit einer Schere auf Julian los. Ehe Julian und die Pfleger ihn überwältigen konnten, hatte er ihn schon verletzt. Wie in Zeitlupe sah Ella das Blut aus Julians abwehrend hochgerissenen Handrücken quellen, und da stellte sie fest, dass es ihr etwas ausmachte: Sie kannte ihn erst ein paar Minuten, aber sie wollte ihn nicht verlieren.
    Zu schnell, dachte sie jetzt, zu dramatisch. Du wolltest dir nur beweisen, dass du noch lebst. Und die Lücke füllen, die Annika hinterlassen hat, als sie nach London zurückgefahren ist. Sie brach den Film ab. Das letzte Bild blieb noch eine Weile stehen: Julian, blutend und verwirrt, mit einem irgendwie verlegenen Lächeln im Gesicht. Ein anderer Julian als der von heute Abend.
    Ich möchte mich gern umziehen. Oder ist noch etwas?
    Ja, fünf Menschen sind heute gestorben, das ist selbst für mich ein bisschen viel. Ich war da, ich habe das Blut nicht durch ein Mikroskop gesehen, sondern live, die geborstenen Knochen, das verbrannte Fleisch, die verstümmelten Hände und Beine. Fünf Tote und vielleicht werden es noch mehr, und irgendwo läuft ein durchgeknallter Sani herum, echt oder falsch, aber mit einem Foto von mir in seinem Handy, in das er vielleicht gerade digitale Nadeln sticht wie bei einem obskuren Voodoo-Ritual.
    Ella trank ihr Glas aus und stand auf, etwas unsicher, um zum Anrufbeantworter zu gehen. Das rote Lämpchen blinkte dreimal hintereinander, dann folgte ein Intervall, ehe es wieder dreimal blinkte. Sie drückte die Wiedergabe-Taste, und das Band spulte sich zurück. Eine mechanische Frauenstimme verkündete: »Sie haben drei neue Anrufe. Erster Anruf: gestern 19:06 Uhr.«
    »Ella!« Das war Annika, ihre Stimme klang panisch. »Die E-Mails, die ich dir vor Kurzem geschickt habe, musst du sofort löschen! Du hast sie nie bekommen, klar? Es ist wichtig, dass du sie nie erhalten hast! Lösch alle E-Mails, die du je von mir gekriegt hast, obwohl es vielleicht schon zu spät ist. Und falls du es noch nicht getan hast – meine Anrufe auf deinem AB musst du ebenfalls löschen! Alles! Und ruf mich nicht an! Ruf mich auf keinen Fall an!« Ihre Stimme versagte für einen Moment, als müsste sie erst wieder zu Atem kommen. »Nicht anrufen, hörst du?«
    »Zweiter Anruf: heute 22:13 Uhr«, sagte die mechanische Frau, und es war wieder Annika, die rief: »Ich bin nicht in London, da ist es nicht sicher für mich. Ich habe auch kein Handy mehr.« Ihre Stimme zitterte. »Du bist in Gefahr, wir sind alle in Gefahr! Ich kann dich nicht schützen.« Ein leises Scheppern ertönte im Hintergrund. »Ach, Scheiße, verdammt, komm schon … Ich muss jetzt auflegen!«
    Etwas klirrte am anderen Ende der Leitung, dann folgte ein Knacken, dann Stille. Ella starrte das rot blinkende Lämpchen an. Was war mit Anni los? Das klang gar nicht nach ihr, nach der nüchternen, coolen Psychologin. Warum ist London nicht sicher für dich, Anni? Von was für einer Gefahr redest du? Welche E-Mails hast du gemeint? In letzter Zeit hatte sie keine Anfälle mehr gehabt, aber ihr letzter Fluch klang, als hätte sie versucht, das Plastikdöschen mit ihren Tabletten zu öffnen. Verdammt, komm schon.
    Im Dunkeln drückte Ella die Stop-Taste, griff nach dem Telefonhörer und wählte Annis Nummer in London. Ruf mich nicht an! Nach einer kurzen Stille ertönte das Freizeichen, einmal, zweimal, dreimal, wieder und wieder. Niemand hob ab. Auch der Anrufbeantworter schaltete sich nicht ein. Und was, wenn einer von Annis Patienten Hilfe brauchte oder einen Termin absagen wollte? Ella legte auf und wählte noch einmal, diesmal die Handynummer. Eine digitale Frau, die genau wie Ellas AB klang, sagte: »The person you’ve called is temporarily not available.«
    Ella legte wieder auf und drückte die Play-Taste des AB, vielleicht war der nächste Anruf ja auch von Anni.
    Ruf mich auf keinen Fall an!
    »Dritter Anruf: heute 23:37 Uhr.« Es rauschte und knisterte in der

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