Nukleus
haben?«
»Keine Ahnung.«
»Und dann?«
»Ist er aus dem Einsatzwagen gesprungen und weggelaufen, nachdem er mit seinem Handy ein Foto von mir gemacht hat.«
»Ein Foto von Ihnen? Warum hat er das getan?«
»Vielleicht findet er mich sexy«, sagte Ella. »Hören Sie, Oberkommissar Hagen, ich bin seit heute Morgen halb fünf auf den Beinen und würde jetzt wirklich gern nach Hause gehen. Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß. Wenn Sie noch weitere Fragen haben …«
»Oh, die haben wir bestimmt«, meinte Hagen. »Aber im Augenblick sind wir hier fertig. Ich brauche nur noch Ihre Adresse und die Telefonnummern, unter denen man Sie erreichen kann.«
Ella nannte ihm ihre Anschrift in der Akazienstraße und gab ihm Handy- und Festnetznummer, die er in ein kleines ledernes Notizbuch eintrug. »Und Halil Abou-Khan?«, wollte er abschließend wissen, während er seinen Parka wieder von der Trage nahm. »Hat der etwas zu Ihnen gesagt, das uns weiterhelfen könnte?«
»Nein.«
»Er hat gar nichts gesagt?«
»Nur, dass er mich zur Verantwortung ziehen würde, wenn seine Tochter stirbt.«
Sie dachte daran, wie Shirins Vater vorhin reagiert hatte, als seine Tochter auf der Intensivstation endgültig ins Koma gefallen war. Vor ihren Augen hatte sein Körper sich verformt; er wirkte auf einmal gekrümmt, als zöge die Schwerkraft stärker als vorher an seinen Schultern. Seine straff über den Schädelknochen gespannte Haut hatte im Deckenlicht dünn und pergamenten geglänzt. »Sie haben gesagt, meine Shirin stirbt nicht, Ärztin«, hatte er gesagt, und auch seine Stimme war schwer, kühl und traurig gewesen.
»Das glaube ich immer noch«, hatte Ella geantwortet.
»Aber wenn sie doch stirbt …« Weiter war er nicht gekommen, dann hatte er sich unterbrochen und den Satz in der Luft hängen lassen wie eine Schlinge, die sich im kalten Wind drehte.
»Wir haben alles getan, was in unserer Macht stand«, hatte Ella gesagt, doch er hatte sich von ihr abgewandt. »Vielleicht ist das nicht genug«, hatte er gesagt und seine Frau an ihr vorbei den Gang hinuntergeführt.
Oberkommissar Hagen schwieg einen Moment, schien das Gewicht dieser Drohung abzuwägen. »Wollen Sie, dass ich ein paar Leute zu Ihrem Schutz abstelle?«
»Nein. Shirin lebt ja noch.«
»Nehmen Sie solche Drohungen nicht auf die leichte Schulter«, warnte er sie und kam ihr dabei so nah, dass sie seinen leichten Schweißgeruch wahrnahm.
»Ich habe Erfahrungen mit kriminellen Clans«, sagte Ella. »Es ist erst ein knappes Jahr her, da war die Hälfte aller Banker Europas hinter mir her, und ich lebe noch.«
Hagens Augen wurden schmal. »Bach, Bach, Bach … Ella Bach! Sind Sie diese Ella Bach? Wurden Sie nicht wegen Mordes gesucht? Wegen mehrerer Morde sogar?«
»Ich war unschuldig«, sagte Ella. »Ein paar Ihrer Kollegen nicht. Ich lebe, die sind tot. Gute Nacht.«
»Warten Sie, ich bringe Sie noch zum Ausgang. Vorhin war einer der Söhne von Abou-Khan hier oben, wo er nichts zu suchen hatte. Ich habe ihn runtergeschickt, musste etwas laut werden, aber ich hatte den Eindruck, er war auf der Suche nach Ihnen oder diesem Chirurgen, Dr. Auster.«
Sie gingen den Korridor entlang bis zu den Fahrstühlen und warteten auf den ersten, der mit einem leisen Pling hielt. Ellas Füße schmerzten bei jedem Schritt, und sie sehnte sich danach, endlich die Turnschuhe ausziehen und sich in ein heißes Schaumbad legen zu können.
»Wenn man Sie so reden hört, könnte man denken, diese Leute führen andauernd nur Böses im Schilde«, sagte sie. »Aber dann sehe ich ein unschuldiges Kind wie Shirin, das mit einem selbstgemalten Organspender-Ausweis …«
»Ach ja, der selbstgemalte Ausweis«, fiel Hagen ihr ins Wort. »Das ist die neueste Masche. Damit werden die süßen unschuldigen Kleinen von ihren Eltern auf Betteltour geschickt, um unser Mitleid zu erregen, um an unser schlechtes Gewissen als Wohlstandsbürger zu appellieren. ›Ich bin Organspender, obwohl ich selbst aus dem letzten Loch pfeife, geben Sie mir ein paar Cent, bitte, bitte!‹ Kaum zu glauben, dass jemand wie Sie noch darauf reinfällt.«
»Wer, wenn nicht ich«, meinte Ella.
9
Ella betrachtete sich in dem leicht beschlagenen Badezimmerspiegel und fand, dass die Wut sie schön machte, die Wut und der Wein. Ihre Haut war leicht gerötet und rein, die klaren, grüngrauen Augen glänzten. Das Haar fiel, dunkel schimmernd wie eine polierte Kastanie, bis auf die Schultern. Sie verspürte eine
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