Nukleus
Ravioli-Dosen, eine Kiste Diät-Cola, das Notebook und das Zeug zur Meth-Herstellung. Mehr ha ben wir nicht gefunden. Keine Bücher, keine CDs, kein Fernseher. Ach ja, eine versiffte Matratze auf dem Boden im Schlafzimmer und ein halb verdursteter Gummibaum, aber kein Handy. Wenn ich so leben müsste, würde ich auch durchdrehen …«
»Danke, Lorenz«, sagte Abdallah. »Schicken Sie mir das Notebook ins Büro, bitte.« Er unterbrach die Verbindung, nahm das Kaugummi aus dem Mund und deponierte es im Aschenbecher. In seinem Mund blinkte ein Goldzahn, reflektierte das Blaulicht auf dem Armaturenbrett. »Kein Handy, Sie haben’s ja gehört.«
»Dann muss es jemand mitgenommen haben«, sagte Ella, »oder sogar beide, falls er das erste noch hatte.«
Abdallah runzelte die Stirn. »Seltsam.« Er stutzte. »Vielleicht ist es ja wie in diesen Gruselgeschichten, wo ein Gegenstand von einem zum anderen wandert, und jeder, der mit ihm in Kontakt kommt, stirbt. Was meinen Sie?«
»Wer weiß«, sagte Ella. Ihr Kopf schmerzte jetzt nicht mehr, dafür breitete sich ein taubes Gefühl aus. Sie merkte, dass sie kaum noch die Kraft zum Zuhören besaß, und ihre Zunge war wie gelähmt. Sie fuhren mit hohem Tempo auf der linken Spur der breiten Straße, vorbei an der Moschee, dem Friedhof und dem dunklen Rollfeld des Flughafens. Zehn Minuten, dachte sie; in zehn Minuten konnte sie zu Hause sein.
»Seltsam«, meinte der Kommissar noch einmal. »Wenn es bei Kornack tatsächlich ein Handy gegeben hat, das jetzt nicht mehr da ist, haben wir es inzwischen schon mit zwei verschwundenen Handys zu tun. Und beide muss jemand mitgenommen haben. Aber warum? Was könnten sie uns verraten? Immerhin komisch, dass beide sich umgebracht haben, ja, regelrecht in Rauch und Flammen aufgegangen sind, was meinen Sie? Wenn es so eine Horror-Geschichte wäre, wüssten wir, dass der Dieb vielleicht der nächste Mörder oder Selbstmörder sein wird und dass jeder infrage kommt – Sie, ich, jemand von der Spurensicherung, der Feuerwehr, dieser Sascha, Ihr Rettungsassistent, und noch ein halbes Dutzend Leute.«
Er trat das Gaspedal tiefer durch. »Ich frage mich, ob wir da den Anfang eines Musters haben. Vielleicht kannten die Täter sich sogar! Sie wollen nicht mal rasch in Ihren Taschen nachsehen, wie viele Handys da drin stecken?«
»Wenn Sie durch Wände ohne Türen gehen können«, fragte Ella müde, »warum können Sie dann nicht auch in Taschen sehen?« Ihr fiel ein, dass sie ihr eigenes Handy ausgeschaltet hatte, bevor sie in Kornacks Haus gegangen war. Sie holte es aus ihrer Umhängetasche und schaltete es ein. Eine Nachricht in Abwesenheit. Sie gab ihre PIN ein und hörte sich die Nachricht an.
»Hier ist Doktor Mehlthau«, sagte eine vage vertraute Stimme, »Campus Virchow, Neurochirugie. Frau Bach, Sie hatten darum gebeten, informiert zu werden, falls eine Veränderung im Befinden der Patientin Shirin Abou-Khan eintritt. In der letzten halben Stunde haben sich ihre Werte dramatisch verändert. Die Temperatur ist stark angestiegen, und auch die übrigen Untersuchungsergebnisse haben meinen anfänglichen Verdacht auf eine Meningoenzephalitis bestätigt. Jetzt ist auch noch eine Sepsis dazugekommen. Ehrlich gesagt, habe ich wenig Hoffnung, dass ihr Organismus die Nacht übersteht. Es ist jetzt … 20:31 Uhr. Wenn Sie das hier hören …«
Ella sah auf ihre Armbanduhr. 21:55 Uhr. Ihre Müdigkeit war schlagartig verschwunden. »Können Sie mich bitte zur Vichow-Klinik bringen, jetzt sofort?«, bat sie den Kommissar.
»Sie meinen, wie ein Taxi?«
»Der Zustand von Abou-Khans Tochter hat sich offenbar im Lauf des Nachmittags verschlechtert.«
»Ich wusste nicht, dass der noch schlechter werden konnte«, meinte Abdallah. Mit einer Hand gab er die neue Route ins Navi ein, dann drückte er den Knopf für die Sirene, riss das Lenkrad nach rechts und schaltete in einen Gang, der offenbar ein Raketentriebwerk zündete. »Sie lebt aber doch noch?«
Ella antwortete nicht. Hoffentlich, dachte sie; hoffentlich.
1 8
Die Stadt flog vorbei, während sie in dem Audi mit Blaulicht und Sirene saßen wie in einer dahinjagenden Raumkapsel. Die Zeit heilt alle Wunden, was für ein blöder Gedanke, die Zeit heilt gar nichts, jedenfalls keine Eisenspäne im Gehirn und keine bakterielle Sepsis. Ella wusste, dass Beten genauso ein blöder Gedanke war, aber die nächsten Worte, die ihr in den Sinn kamen, waren: Lieber Gott, lieber Gott, und das war wohl ein Gebet,
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