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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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sie Limonade mit einem Strohhalm trank, frech grinsend – zwei Zähne fehlen; da war Shirin mit hochgestreckten Armen auf den Schultern ihres knienden Vaters – Halil auf Knien; da war Shirin, die sich zu einer Mohnblume bückte, eine verschleierte Puppe liebkoste, eine Katze streichelte, in einem Badeanzug einen scheuen Zeh in ein Wasserbassin streckte.
    »Seit sie hier ist, lebe ich in der Vergangenheit, ich bin begraben unter Erinnerungen«, sagte er. »Dabei sind es nur eine Nacht und ein Tag und jetzt … Ich habe nie gewusst, dass Zeit so lang sein kann. Ich höre ihre Füße durch die Wohnung laufen, ihre Stimme klingt in meinen Ohren. Letzte Nacht bin ich aufgewacht, das geschieht sonst nie. Ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Ich verließ meine Frau und ging in das Zimmer, das Shirin sich mit ihrer Schwester teilt, und beide waren nicht da. Shirin ist sonst immer da, ihr kleiner Körper liegt in ihrem Bett, und ich kann sie schlafen sehen. Aber gestern war das Bett leer, nicht einmal eine Kuhle in der Matratze, weil sie nur gerade mal eben ins Bad gegangen war. Ich saß auf Nerins Bett und sah hinüber und konnte es gar nicht fassen – ist meine Shirin wirklich im Krankenhaus? Ist sie wirklich beinahe bei einem Sprengstoffanschlag getötet worden und liegt jetzt im Koma? Mir war klar … wissen Sie, mir war klar, das alles traf zu und trotzdem konnte ich es nicht glauben. O Allah, dachte ich, o Allah, nie war die Dunkelheit so dunkel.«
    Er verstaute die Fotos wieder in der Brieftasche. »Ich will, dass sie lebt!«, stieß er hervor. »Ich will, dass sie gesund wird und lebt.«
    »Ja«, sagte Ella. »Das wollen wir alle hier. Wo ist denn Ihre andere Tochter, Nerin? Ich sehe sie gar nicht.«
    »Ihre Brüder haben sie angerufen, damit sie herkommt«, sagte Halil. »Aber sie gehorcht nicht, ihren Brüdern nicht, mir nicht. Sie tut nicht, was man ihr sagt. Sie ist eine schlechte Tochter.«
    »Weil sie kein Kopftuch trägt?« Plötzlich verlor Ella die Geduld. »Weil sie Deutsch zu Hause spricht? Oder weil sie keine Leute bedrohen und töten will?«
    »Sie wissen nichts von uns, Ärztin«, sagte Halil. »Jemand zu töten, ist kein Spaß. Manchmal ist es notwendig. Gerecht. Die Umstände verlangen es. Und was Sie bedrohen nennen, ist eine Warnung. Es ist die Bitte, es nicht dazu kommen zu lassen. Es liegt in deiner Hand, nicht in meiner. «
    »Ach, das sind Bitten, die Sie auf meinen Anrufbeantworter gesprochen haben!«, sagte Ella. »Und die Männer vor meinem Haus, die mir heute Morgen gefolgt sind, die behalten mich nur im Auge, damit ich zur Stelle bin, wenn die Zeit für notwendige Gerechtigkeit gekommen ist, ja?«
    Halil schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich habe niemand zu Ihnen geschickt und niemand befohlen, Ihnen zu folgen. Ich regele die Dinge anders, wenn es notwendig ist. Ich schicke Amal, der Sie abholen kommt, egal, wo Sie sind. Ich schicke Amal auch zu Nerins deutschem Freund, wenn sie sich nicht ändert. Der ist nicht gut, nicht gut für sie, nicht gut für uns. Wir werden sehen. Shirin hat einen Jungen, der ist gut für sie. Yassim. Mit ihm war sie gestern verabredet, beim Sommerbad Neukölln. Aber er hätte sie nicht allein nach Hause fahren lassen dürfen, er hätte sie begleiten müssen. Mit vierzehn sollte er das wissen. Man wird sehen.«
    Was hat ein Vierzehnjähriger mit einem nicht einmal neunjährigen Mädchen zu tun?, dachte Ella, aber sie war zu müde, um auch diese Frage noch zu stellen. »Ich gehe jetzt nach Hause«, sagte sie. »Und Sie sollten auch nach Hause gehen.« Sie war schon auf dem Weg zum Lift, als ihr ein Gedanke kam. »Heute Morgen habe ich diesen Rapper bei Ihnen gesehen – Rashido. Mag Shirin ihn?«
    »Er ist ihr Patenonkel.«
    »Ja, aber mag sie ihn?«
    »Sie verehrt ihn.«
    »Kann er wirklich singen, oder ist das nur Show?«
    »Er kann singen.«
    »Hat er früher mit ihr gesungen, als sie kleiner war?«
    »Sie singen jetzt noch manchmal miteinander, nicht dieses Rap-Zeug, sondern richtige Lieder – Lieder aus der alten Heimat.«
    »Bringen Sie ihn mit, wenn Sie das nächste Mal kommen«, sagte Ella. »Vielleicht kann er ihr etwas vorsingen, etwas, das sie gern gehört hat, woran sie sich erinnert. Es ist einen Versuch wert. Ich spreche mit dem Stationsarzt, damit er ihn zu ihr lässt. Gute Nacht.«
    Sie betrat den Fahrstuhl und fuhr hinunter ins Tiefgeschoss zur Rettungsstelle, wo Kommissar Abdallah allein im Vorraum auf einem Stuhl saß und, die

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