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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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selbst wenn danach nichts mehr kam.
    Fassaden wechselten im Zeitraffer: Mehringdamm, Wilhelmstraße und Potsdamer Platz – die Lichtklippen, an denen die Elektrizität in den unsichtbaren Nachthimmel kletterte –, dann das dunkle Dickicht des Tiergartens, die Alleen um die Goldelse, und danach schon Alt-Moabit. Auf einer Stahlbrücke vor ihnen schepperte ein S-Bahn-Zug über die Hochgleise. Die Wagen ratterten aus der Dunkelheit heran, über und über mit Graffiti bemalt wie ein dreidimensionales Comicbuch; ein ganzer Film explodierte vor ihnen auf der Leinwand der Nacht in Magentarot und Neongrün und Feuerorange und Karibik blau. Verzerrte Gestalten, wieder Teufelsfratzen, Aliens, Zombies, nackte Frauen über einem Fegefeuer aus verschlungenen Kreisen, Ringen und arabischen Worten. Scharfe Buchstaben mit Krokodil zacken und Leguanfüßen, die alles sein konnten, Beleidigungen oder Gedichte oder Gebete.
    Der Audi schoss unter der Brücke durch, und die Sirene hallte in das Rattern wie ein mechanischer Schrei. »Der Maschinenraum der Hölle«, sagte Abdallah, »so muss es sich da unten anhören.«
    Ella schloss die Augen, und als die Übelkeit nachließ, waren sie schon am Nordhafen, und dann bog der Audi auf die Zufahrt zum Klinikgelände, und dann tauchte er in die Unterführung zur Notaufnahme, und dann liefen sie durch die Rettungsstelle zu den Aufzügen, um zur Neurochirurgie im ersten Stock hinaufzufahren, und dann sahen sie Shirins Familie.
    Halil Abou-Khan, seine Frau Semira, Shirins Brüder und ein paar Onkel und Tanten hatten sich vor der Intensivstation eingefunden, aber diesmal machten sie keinen Lärm. Es gab keinen Streit, kein Geschrei. Sie saßen oder standen schweigend in dem kahlen Raum, in dem sich niemand sonst aufhielt. Das fahle Licht raubte ihnen die Bedrohlichkeit; sie sahen aus wie alle Verwandten, die um das Leben eines Familienmitglieds fürchteten.
    »Ich warte unten«, sagte Abdallah und blieb im Fahrstuhl. Ella nickte. Sie ging zum Schalter der Oberschwester und klopfte ans Fenster. »Ella Bach. Ich möchte zu Shirin Abou-Khan. Doktor Mehlthau hat mich angerufen.«
    Die Schwester nickte und drückte einen Knopf, der Ella die Tür zur Intensivstation öffnete. Halil stand auf, um ihr zu folgen, aber die Schwester rief: »Sie nicht! Sie können da jetzt nicht rein!« Schweigend kehrte er zu seinem Stuhl zurück, beschränkte sich auf einen kurzen Blick, in dem mehr Sorge als Zorn stand. Nur das leise Aufbegehren seiner Söhne, ihr gezischter arabischer Protest folgte Ella durch die automatische Tür, die sich schnell wieder hinter ihr schloss.
    Shirin lag allein in einem nur von einer schwachen Lampe an der Wand erhellten Zimmer, das vom Piepen des Monitors und dem Zischen des Beatmungsgeräts erfüllt war. Ihr Gesicht war feucht von Schweiß. Auch ihr Haar war feucht, und der reglose Körper schien den Raum mit Wärme zu erfüllen wie eine menschliche Heizung. Wieso ist denn niemand bei ihr, dachte Ella; wieso lassen sie die Eltern nicht zu ihr? Sie ging um das Bett herum und merkte plötzlich, dass ihre Schritte unsicher waren, als ginge sie auf geliehenen Füßen. Sie setzte sich auf einen Hocker neben Shirins Bett. Sie hatte Durst; ihr Mund war so trocken, dass es fast schmerzte. Unwillkürlich betastete sie das Pflaster über ihrer linken Schläfe, drückte sacht dagegen. Sie spürte den schon vertrauten Stich, aber das taube Gefühl war verschwunden.
    »Shirin«, sagte sie zu dem kleinen, heißen Körper, »jetzt pass mal auf: Wir haben das nicht alles durchgestanden, damit du jetzt aufgibst. Ich bin bei dir, und alle anderen Ärzte sind auch hier bei dir, und draußen wartet deine Familie, und bestimmt hast du Freunde, die wollen, dass du wieder gesund wirst. Du ahnst ja gar nicht, was du alles verpasst, wenn du jetzt aufgibst. In Ordnung? Hast du mich verstanden?«
    Shirin reagierte nicht, kein Finger zuckte, kein Lid zitterte. Ella hörte das Piepen, Tröpfeln und Fauchen der Maschinen, Geräusche, die so gar nichts mit der kleinen Patientin zu tun haben schienen. Ella wollte erneut etwas sagen, als ein Arzt hereinkam.
    »Ich habe gehört, dass Sie da sind«, sagte er laut.
    »Pssst«, machte Ella unwillkürlich.
    »Mehlthau«, stellte er sich vor. »Sie kann uns nicht hören«, fuhr er fort und dämpfte trotzdem die Stimme.
    Ella gab ihm die Hand. »Wie ist ihr Status? Was haben die Befunde genau ergeben?«
    Mehlthau seufzte. »Leukozytose mit Linksverschiebung«, sagte er,

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