Nukleus
einen Mord begeht – oder Selbstmord.« Er sagte das ganz ernst, keine süßen Datteln. »Mein soziales Netzwerk ist die Polizei, vor allem die anderen arabischen und türkischen Beamten. Aber der Attentäter hatte vielleicht sogar einen Account irgendwo. Dann wissen wir auf einen Schlag alles über ihn, Freunde, Bekannte, Vorlieben und Abneigungen, das Motiv ! Bloß an die Hintermänner, falls es welche gab, werden wir so wohl nicht rankommen. Kann natürlich auch sein, dass er vorher schnell noch seinen Account gelöscht hat, oder jemand anderer hat es für ihn getan …«
Ella erhaschte einen Blick auf das Graffito an der Mauer, die grellbunte Fratze, die aus den verschlungenen Farbströmen hervortrat, mit gefletschten Zähnen und weit aufgerissenen roten Augen. In der Fratze erkannte sie den Sanitäter, sah ihn wieder vor sich, wie er durch den langen Korridor auf sie zuschnellte, das Gesicht von Grauen entstellt, die Hände zu Klauen geformt.
Abdallah schaltete das Blaulicht auf dem Armaturenbrett ein. An der Ecke Hermannstraße bog er nach rechts ab und wechselte hinter der U-Bahn-Insel sofort auf die Linksabbiegerspur. An einer von Scheinwerfern angestrahlten Plakatwand auf der anderen Seite der Kreuzung sah man das riesige Bild eines Mammutbaums, mit Hunder ten von Gesichtern statt Blättern an den Zweigen. Hinter dem Baum ging die Sonne auf, nur der obere Rand, und ihre Strahlen tauchten die Krone in goldenes Licht. Die einzigen Worte auf dem Plakat waren Join Your Life und, etwas kleiner, www.LifeBook.com.
»Alles, was wir bisher haben«, sagte der Kommissar, »sind ein paar spärliche Zeugenaussagen. Die überlebenden Fahrgäste berichten übereinstimmend, dass der Mann – der Attentäter – sie mit seinem Handy gefilmt hat, bevor er den Bombengürtel unter seinem Mantel gezündet und irgendetwas gerufen hat, an das sich aber niemand erinnern kann. ›Allahu Akbar‹ war’s jedenfalls nicht. Ein Mann meint, das Wort ›Eli‹ gehört zu haben, ist sich aber nicht hundertprozentig sicher. Eine Frau, die mit dem Rücken zu ihm saß, sagt, es sei plötzlich ganz hell im Waggon geworden, als wäre ein Scheinwerfer angegangen, so einer, wie sie bei Filmaufnahmen benutzt werden. Dann hätte ein heftiger Luftstoß ihr die Haare ins Gesicht geweht, und erst danach hätte sie die Explosion gehört, ein Wahnsinnskrachen, und im selben Moment wären Körperteile an ihr vorbeigeflogen – Finger, ein Ohr, ein Fuß in einem weißen Turnschuh, eine halbe Kopfschwarte mit Haaren daran – und dem Mann gegenüber an die Brust geklatscht, alles in diesem strahlenden Licht und dem Luftsog. Klingt irre, nicht? Wenn man sich das bildlich vorstellt. Irre.«
An der Kreuzung wichen die anderen Fahrzeuge zur Seite, und Abdallah fuhr weiter, über die rote Ampel, und bog in die Flughafenstraße Richtung Schöneberg. Dabei sagte er: »Ach, und ein anderer meint, er hätte gesehen, wie der Mann zu zittern begann, als er sein Handy herausholte, wie Espenlaub. Am ganzen Leib gezittert, ich nehme mal an vor Angst.«
Ella fragte: »Haben Sie das Handy gefunden? Das der Sanitäter auf dem Bahnsteig an sich genommen hatte?«
»Nein. Bisher nicht.«
»Er hat ein Foto von mir gemacht«, sagte sie müde. »Als Kornack gestern in den Rettungswagen gesprungen ist, nachdem er versucht hatte, sich die Halsschlagader aufzuschneiden, hat er mich mit seinem eigenen Handy fotografiert. Und als er auf uns losgegangen ist, hat er uns dabei gefilmt.«
»Haben Sie eine Ahnung, warum hat er das getan haben könnte?«
»Nein. Aber es beunruhigt mich.«
Abdallah holte mit der linken Hand sein eigenes Smartphone aus der Jackentasche, wählte eine Nummer und aktivierte die Freisprecheinrichtung. Es tutete in vier verborgenen Lautsprechern, dann meldete sich eine laute Männerstimme. »Lorenz.«
»Abdallah. Wie weit seid ihr mit dem Tatort?«
»Wir sind hier so weit fertig.«
»Habt ihr die Handys sichergestellt?«
»Welche Handys? Hier waren keine Handys. Nur das von Hagen.«
»Womit hat der … wie heißt er nochmal? … womit hat Kornack dann telefoniert?«, fragte Abdallah.
»Keine Ahnung. Das Einzige, was wir gefunden haben, war ein Notebook. Vielleicht hat er übers Internet …«
»Aber er hatte ganz sicher ein Handy, als wir in die Wohnung ge kommen sind«, warf Ella ein. »Ich habe gesehen, wie er auf das Display gestarrt hat.«
»Wir haben die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt«, sagte Lorenz. »Ein paar Klamotten, ein Stapel
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