Nukleus
»katecholaminpflichtige Sepsis. Liquorpleozytose. Das heißt, Kernverschiebung, schwere Veränderung des weißen Blut…«
»Wie lautet Ihre Prognose?«, unterbrach Ella ihn.
»Abwarten und Tee trinken.«
»Sie haben Nerven«, sagte Ella. Sie stand auf und ging hinaus. Kaum war sie durch die Stationstür getreten, hefteten sich wieder die Augen von Halil auf sie. Seine Brust hob sich, und dann entfuhr ihm ein so schwerer Seufzer, dass seine Frau, die neben ihm saß, erwachte. Schlaftrunken hob Semira Abou-Khan den Kopf von seiner Schulter. Sie sah sich um, sagte aber nichts, sondern zog nur das Kopftuch en ger um ihr kaum sichtbares Gesicht, bevor sie kurz aufschrie: »Allah!«, und die Arme wieder vor der Brust verschränkte.
Halil stand auf. Sofort folgte ihm einer seiner Söhne, Amal, aber er bedeutete ihm mit einer knappen Geste, sitzen zu bleiben. Er nahm seine schwarze Wollmütze ab, ging Ella entgegen und fragte: »Wie geht es meiner Shirin?«
»Sie hat schweres Fieber«, sagte Ella.
»Von der Blutvergiftung?«
»Ja.«
»Hat jemand einen Fehler gemacht, Ärztin? Hat jemand nicht aufgepasst?«
»Nein.«
»Wird sie sterben?«
Ella schwieg. Er griff nach ihrem Arm und führte sie ein paar Schritte von den anderen weg. Sein dunkles, faltiges Gesicht wirkte müde und zerfurchter als am Vormittag. Seine Kopfhaut glänzte talgig. An seinem Hals hing die Haut stoppelbedeckt in den Hemdausschnitt. Er ging mit schweren Schritten, jeder einzelne aufmerksam, fast argwöhnisch beobachtet von seinen Söhnen. Leise sagte er: »Die Geschichte von dem Waschsalon, dass ich jemand auf diese Weise getötet haben soll … das ist nicht wahr.«
Ella schwieg weiter.
Noch einmal hob sich seine Brust, doch den anschließenden Seufzer verschluckte er. »Ich habe zu viel Ehrfurcht vor dem Tod für so etwas. Wenn man stirbt, dann ist es, als würde etwas aus einem herausgezogen, etwas Großes, das schwer und schwarz auf den Boden gleitet. So ist es bei einem alten Mann. Ich weiß das, weil ich selbst einmal beinahe gestorben wäre. Aber wenn ein junges Mädchen stirbt, dann ist es, als würde eine Blüte zertreten, ein zarter Halm, der gerade erst das Licht der Sonne erblickt hat. Nur die Dunkelheit danach ist die gleiche. Wird meine Schneeflocke in diese Dunkelheit wehen?«
»Wir sind alle bemüht, das zu verhindern«, sagte Ella.
Wieder entrang sich seiner Brust ein tiefer, qualvoller Seufzer. »Ich möchte nicht …«, flüsterte er, vollendete den Satz jedoch nicht, und Ella dachte: Du möchtest mich nicht töten müssen, mich und alle anderen, die Shirin nicht gerettet haben. Stattdessen sagte er: »All das, was hier mit ihr geschieht. Man kann es nicht mit ansehen. Sie messen die Ströme, die durch ihr Gehirn fließen. Sie zeichnen ihren Herzschlag auf. Ihr kleines Herz. Sie nehmen ihr immer wieder Blut ab, und Flüs sigkeit aus dem Rücken. Sie kleben ihr Elektroden auf die Brust. Sie flößen ihr Lösungen ein und fahren sie auf ihrer Trage, nur mit einem dünnen Tuch bedeckt, durch die Korridore, vorbei an Menschen in Morgenröcken, die ihre Nahrung neben sich her schieben. An Männern, die ihren Urin in Bechern in der Hand halten. Diese kalten, leeren, grellen Korridore wie Irrgärten. Diese leeren Räume voller großer Maschinen, die auf sie warten, in die sie geschoben wird wie in einen Backofen. Sie wird durchsichtig für Augen, die sie niemals sehen dürften. Das muss ihr doch wehtun. Es geht gar nicht anders. Das wird sie nie vergessen, es wird sie immer verfolgen. Die Explosion in der U-Bahn und das hier auch. Und dass ihr Vater ihr nicht helfen konnte. Dass sie dalag und ein Schlauch für sie geatmet hat und nicht ihr Vater.«
Hoffentlich, dachte Ella, hoffentlich vergisst sie es nie, denn das würde bedeuten, dass sie am Leben geblieben ist.
»Ich habe Fotos von ihr, schauen Sie.« Ungestüm griff Halil in eine Innentasche seiner Jacke. »Sie kennen sie nur so, wie sie da liegt, blass, reglos, an Schläuchen und Geräten hängend, aber das ist sie nicht. In Wirklichkeit ist sie ganz anders. Hier, sehen Sie ihre Augen, wie sie strahlen, ihren Mund, wenn er lacht.«
Er holte eine abgegriffene Kunstleder-Brieftasche hervor, klappte sie auf und zog einen dünnen Stapel Fotos aus einem Fach mit einer vergilbten Sichtfolie hervor. Da war Shirin mit vielleicht vier, auf einem hölzernen Schaukelpferd, staunend – die Augen strahlen wirklich –; da war Shirin hinter einer viel zu großen Sonnenbrille, wie
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