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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Netzwelt in einem Zustand permanenter Pubertät zu halten« –, als sie zu zittern begann und mit einer Hand nach etwas zu greifen schien, das nicht da war. Wie von einer unsichtbaren Faust getroffen, kippte sie von ihrem Stuhl und fiel der Länge nach auf den Podiumsboden. Ihre Glieder zuckten, als würde sie mit Elektroschocks traktiert werden. Blut färbte ihre Lippen und das Kinn erst rot, dann quoll weißer Schaum hervor. Fassungslos starrten die anderen Diskussionsteilnehmer auf sie hinab, bis ein Mann zu ihr eilte und ein Fläschchen aus der kleinen Tasche holte, die neben ihr auf dem Stuhl gelegen hatte. Da war sie schon krank, dachte Ella; da hatte Patrick sie schon so brutal verprügelt, dass ihre Hirnrinde irreparabel beschädigt war.
    Warum stellt jemand so etwas ins Internet?
    Mehr Clips von Anni gab es Gott sei Dank nicht. Ella wollte das Netz gerade verlassen, da fiel ihr ein, dass man bestimmt auch Songs von Rashido auf YouTube finden konnte. Sofort stieß sie auf siebenund zwanzig Stücke und klickte wahllos das erste an: Wir kriegen dich! Die wummernden Bässe sprengten fast die kleinen Lautsprecher des fünf Jahre alten iBooks. Eine bläuliche Flamme zischte ihr vom Bildschirm ins Gesicht, sodass sie unwillkürlich zurückzuckte. Es war die Flamme eines Schweißbrenners, die in dem Film direkt auf die Kamera zubrannte, ehe sie kleiner gestellt wurde, zu einem schmalen bläulichen Laserstrahl zusammenschmolz.
    Der Mann, der den Schweißbrenner hielt, richtete ihn jetzt auf den Nacken eines knienden, mit Goldketten behängten Jungen im Rapper-Outfit. Der Oberkörper des Jungen war nackt bis auf eine Lederweste, und er weinte. Um die beiden herum stand eine Gruppe dunkelhäutiger Gangsta-Darsteller, von denen einige geifernde Pitbulls an noppenbesetzten Leinen hielten. Andere zogen Mädchen in eng sitzenden Lederbustiers hinter sich her, ebenfalls an Leinen mit gezackten Noppen. Dazu wummerten die Bässe, und Gitarren flirrten über einem hämmernden, stampfenden Beat.
    Die Frauen bewegten die Hüften und Arme mit ausladenden Bewegungen wie in Zeitlupe. Aus dem Off sang eine Stimme etwas von Ehre und Respekt und der Währung der Straße, bis es um Stoff und Waffen und Autos und Fotzen ging, und wie alles dasselbe war, wenn ein Mann sich auskannte, und nur einer, der sich auskannte, war ein Mann, ein Bruder.
    Plötzlich durchschnitten Scheinwerfer die Nacht. Ein Konvoi aus Jeeps und amerikanischen Straßenkreuzern umkreiste die Szene der Hinrichtung wie Indianer eine Wagenburg. In einem der Wagen saß Rashido, er stieg langsam aus: jemand, der Ehre und Respekt erfunden hatte, der sich schon ausgekannt hatte mit der Währung der Straße, als alle anderen noch in kurzen Hosen rumgelaufen waren. Seine Gefolgsleute sahen genauso aus wie die Pitbull-Gangsta, aber er – er hatte einen dunkelgrau changierenden Armani-Anzug an, und seine Waffe war nur ein Messer, das ihm von selbst in die Hand sprang.
    Die Stimme, die aus dem Off sang, klang jetzt hart und cool, Rashido eben, und in einem faszinierenden Todesballett erledigte er die Pitbull-Gangstas, um dem knienden Jungen die Hand zu reichen wie Jesus: Steh auf und geh wie ein Mann, wie ein Bruder. Die monotone Musik entwickelte einen Sog, dem Ella sich nur schwer entziehen konnte, und gefilmt war das Ganze so suggestiv wie ein raffinierter Werbespot für Autos oder Süßigkeiten – So schmeckt der Sommer , oder: Ich und meine Magnum –, aber alles, was er verkaufte, war Ghetto kitsch, und während sie das sah, schämte Ella sich dafür, dass sie Nerin nicht wenigstens um ihre Telefonnummer gebeten hatte.
    Dann stockte ihr der Atem: Rashido hatte dem Anführer der Pitbull-Gangstas den Schweißbrenner aus der Hand geschlagen und zerrte ihn zu seinem Ford Mustang. Mit quietschenden Reifen rasten sie durch die Nacht, begleitet von den flirrenden Gitarren, den hämmernden Beats. Nach ein paar harten Schnitten trafen sie bei einem hell erleuchteten Waschsalon ein. Rashido stieß den Pitbull-Gangsta in den leeren Raum, stieß ihn zu einer riesigen Waschmaschine, zwängte ihn durch die runde Klappe, erbarmungslos, hart, aber mit traurigen Augen. Dann schloss er die Klappe und stellte die Maschine an. Der Pitbull-Gangsta presste von innen sein Gesicht gegen das Sichtfenster, panisch, verzerrt, und Rashido schaute nicht weg, er hielt den Blick aus dem Inneren der Maschine stand, die ganze Zeit, auch noch, als längst Wasser und Schaum das Gesicht verwischt

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