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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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aus dem Haus geschlichen, um sich noch einmal mit Paul zu treffen. Das erste Mal. Darauf hatte sie es angelegt. Das erste Mal mit jemandem, der es wirklich verdiente, weil er Leben rettete.
    Sie lagen auf einer Decke, die er mitgebracht hatte, am Rand des kleinen Wäldchens hinter dem Dorf, nicht weit von der Stelle, wo sie und Tanja einmal ihr Baumhaus gebaut hatten. Es war kühl, man konnte schon spüren, dass der Sommer bald zu Ende ging; der Sommer mit Paul. »Komm«, sagte er, »ich mache was, damit dir warm wird.«
    »Wirst du mich immer lieben?«, fragte sie, denn sie war fünfzehn.
    »Ja«, sagte er, denn er war dreiundzwanzig.
    »Wenn ich das nächste Mal nach Hause komme, bist du dann noch da?«
    »Versprochen.«
    »Du wirst nicht weglaufen und dir eine andere suchen?«
    Er zog sie in seine Arme. »Ich werde nicht weglaufen und mir eine andere suchen.«
    »Beweise es mir«, sagte sie.
    Er hielt sie fest, drückte sich gegen sie. »Ich verspreche es dir jetzt, aber mit dem Beweis musst du warten, bis du wieder da bist«, flüsterte er ihr ins Ohr.
    »Dann musst du auch bis zum Herbst warten«, sagte sie, aber das wollte sie gar nicht; sie wollte, dass er genau das tat, womit er dann auch anfing. Zuerst legte er ihr seine lammfellgefütterten Lederjacke um die Schultern, bevor er die Decke über ihre beiden Körper zog und ihre Cargohose aufknöpfte. »Lass mir Zeit …«, flüsterte sie, aber sie meinte es nicht wirklich, denn als er ihr die Hand ins Höschen schob, spürte sie, wie bereit sie für ihn war. Sie stöhnte vor Lust, zerrte an seiner Gürtelschnalle, zerrte am Reißverschluss seiner Jeans, zerrte an allem, bis sie sein Glied ertastete.
    Mit geschlossenen Augen, fast benommen, rutschte sie unter ihn. Mit einem heftigen Stoß drang er tief in sie ein, zwängte ihr glattes, warmes Inneres auseinander. Warm und schimmernd, dachte sie. Erst bewegte er sich schnell und hitzig in ihr, aber dann wurde er langsamer, immer langsamer, hielt still, während sie ihn fest umschloss. »Paul«, flüsterte sie. Innerlich vibrierend, wartete sie, bis er neu begann und sie eins wurde mit ihm und dem Wind und dem Rauschen der Bäume.
    Paul schickte ihr einen Brief, gleich nachdem sie ins Internat zurückgekehrt war, damit sie wusste, dass er jetzt jemand anderen liebte, zwei Wochen nach ihrer Trennung. Als sie den Brief gelesen hatte, wünschte sie sich, wieder eine beste Freundin zu haben. Tanja fiel ihr ein, und sie stellte überrascht fest, dass sie in ihrer Erinnerung keine Freundin mehr war, sondern eine Patientin, die sie gerettet hatte. Meine erste Patientin, dachte sie. Das half ihr, nicht den Verstand zu verlieren, sich nicht umzubringen, obwohl sie ein paar Tage nichts aß. Danach dachte sie, scheiß auf dich, Paul, scheiß auf alle Männer. Ich gehe sowieso nach Berlin.
    Ich könnte das auslassen. Noch nie hatte mir jemand so wehgetan. Ich will nicht, dass jemand das weiß, dass jemand mich so sieht, praktisch nackt. Nein, das gehört an den Lebensbaum. Wenn ich es auslasse, stimmt das Bild nicht mehr.
    Anni hat gesagt, der LifeTree hilft dir, dich selbst zu erkennen, je mehr du an seinen Zweigen aufhängst, je mehr Momente du sammelst, desto deutlicher wird dein Leben für dich – Momente, in denen du stark warst, Momente, in denen du schwach warst. Du findest die Verbindungen, die Verästelungen, die Scheidewege. Und du findest Freunde, die deine Freunde sein wollen, weil du bist, wie du bist. Ella dachte an das Plakat: Join your life.
    Sie hatte nicht viele Freunde, weder auf LifeBook noch im wirk-lichen Leben. Bisher hatte sie auch nur das Notwendigste auf ihre Seite gestellt, Geburtstag, Ausbildung, Beruf, Status quo im Alltag. Sie hatte nicht notiert, was ihre Hobbys waren – sie hatte keine, zu wenig Zeit –, was sie gerne aß und trank, wann sie es aß oder trank, in welche Filme sie ging, welche Bücher ihr gefielen. Sie hatte auch nicht gepostet, wo sie einkaufte, in welche Klubs sie ging und ob es da cool war. Warum auch? Sie hatte nur wenige Freunde, die ihr selbst auch kaum etwas mitteilten, deren Seiten sie fast nie anklickte, weil sie lieber mit ihnen telefonierte.
    So waren die Zweige ihres Lebensbaums lange kahl geblieben. Jetzt hingen da ein Moment der Stärke, ein Moment der Verzweiflung, ein Moment der Entscheidung. Dass sie sich von Julian getrennt hatte, war eine weitere Entscheidung. Du musst deinen Beziehungsstatus ändern, du bist wieder Single. Ob dir das Mitleid einbringt

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