Nukleus
oder neue Freunde, wenigstens bei LifeBook?
Mitleid wollte sie jedenfalls nicht, vor allem nicht Mitleid von Leuten, die sie gar nicht kannte. Trotzdem drückte sie den Posten -Button, weil Kommissar Abdallah vielleicht recht hatte – kein Mitleid, keine neuen Freunde, aber Hinweise und Informationen.
Sie hatte auch kein Mitleid gewollt, als sie damals tatsächlich nach Berlin gegangen war, obwohl sie am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht hätte, kaum dass sie am Bahnhof Zoo aus dem Zug gestiegen war. Die ganze Stadt war wie der Bahnhof, laut, rau, grell und dreckig. Auf den Straßen tobte der Verkehr; Baumaschinen mahlten und stampften, und selbst nachts bebte unablässig die Erde. Ella hatte keine Angst, aber sie brauchte Zeit, um sich an das neue Tempo zu gewöhnen. Nur eins stellte sie schnell fest: dass sie nicht das Zeug zur Entdeckungsreisenden hatte. Sie konnte sich wochenlang in einem einzigen Viertel aufhalten, immer denselben Weg in die Uni nehmen, ohne dass sie auch nur den Wunsch verspürte, den Rest der Stadt kennenzulernen.
Es dauerte fast zwei Monate, bis sie zum ersten Mal ihr Viertel verließ und auf den Fernsehturm fuhr, um sich Berlin von oben anzusehen. Unter einem windigen Himmel stand sie auf der Plattform und blickte hinab auf die unter ihr liegende Stadt mit ihren Ziegel- und Metalldächern, den unzähligen Tönen von Schiefer und Blau und Backsteinrot. Allein die vielen Erker und Balkone über den dichtbelaubten Bäumen beiderseits der großen Boulevards, das gleißende Band der Spree und die auf Hochgleisen fahrenden U-Bahn-Züge reichten aus, um ihr das Gefühl zu geben: Ich bin in Berlin. Das Brandenburger Tor, der Tiergarten mit der Goldelse auf der Siegessäule und die am Potsdamer Platz über die endlose Stadt wachsenden Hochhäuser waren schon fast zu viel, Theaterkulisse für die Touristen in den doppelstöckigen Bussen.
Kurz nach ihrer Ankunft hatte Ella in einem abbruchreifen Haus in Kreuzberg ein Zimmer gemietet, mit Kochnische, ohne Dusche. Das Fenster ging auf den Hinterhof hinaus, wie sich das für eine Studentenbude gehörte. In den rostigen Regenrinnen konnte man Tauben kratzen und rascheln hören, selbst wenn das Fenster zu war. Zwischen den Mauern schlug bunte Wäsche an kreuz und quer gespannten Leinen flatternde Regenbögen.
In der Küche einer WG schräg gegenüber hing ein Filmplakat, das ein halbnacktes Liebespaar zeigte. Die Farben – einst wahrscheinlich ein Rausch aus leidenschaftlichem Rot, leuchtendem Gelb und laszivem Violett – waren von Kochdunst und Bratenfett mit einem mono chromen Schleier überzogen worden, und doch erweckte der Anblick in Ella ein vages Verlangen. Erst einmal hatte sie nackt in den Armen eines Mannes gelegen, Paul, ein Moment der Leidenschaft, weder lasziv noch besonders lang und inzwischen ebenfalls hinter einem monochromen Schleier verschwunden.
Es dauerte eine Weile, bis sie merkte, dass sie einsam war.
Die Ankunft hier in Berlin, dachte sie, das wäre ein Moment der Unsicherheit. Damals hätte ich so was wie LifeBook gebrauchen können, und wahrscheinlich könnte ich sogar ein paar Fotos auftreiben; das Haus sieht bestimmt noch genauso aus wie bei meinem Einzug. Überhaupt war sie zu dieser Zeit in die Phase der dokumentierten Existenz eingetreten, Zeugnisse, Scheine, »Papers«, Prüfungsergebnisse und Fotos, Fotos, Fotos.
Annika – von allen neuen Kommilitoninnen die verrückteste, aber auch die klügste – war es gewesen, die sie aus ihrer Einsamkeit erlöst hatte. Sie begegneten sich in einer Vorlesung, lernten sich kennen und verliebten sich ineinander, wie nur eine Frau sich in eine andere Frau verlieben konnte, ohne deswegen den Männern abzuschwören. Sie kochten füreinander, gingen zusammen ins Kino und auf Studentenfeten. Unternahmen gemeinsame Fahrradtouren und ratterten in scheppernden Zügen kreuz und quer durch Berlin, am liebsten nachts auf den Hochgleisen über den buntflimmernden Straßen. Hockten in irgendeinem rostigen, schrottreifem VW-Bus mit graffitiverzierter Karosserie wie der Rolls-Royce der Beatles, pafften filterlose Zigaret ten und knutschen auf den durchgesessenen Sitzen mit bärtigen Kom militonen, bis die Kunststoffpolster rauchten. Zwinkerten sich über die Schultern der Jungs zu. Erzählten sich hinterher alles, jede Einzelheit – kein Ladenschluss fürs Lotterleben.
Schon damals wusste Ella, dass sie nie wieder eine Freundin haben würde wie Anni, trotz ihres Wahlspruchs aus Annie Get
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