Nukleus
Your Gun, dem uralten Broadwaymusical, das sie im Kino gesehen hatten: »Alles, was du kannst, das kann ich viel besser.« Anni brachte Ella mit ihrem Bruder Max zusammen. Max, der ihre zweite große Liebe gewesen war, wenigstens für eine Weile. Max, der ermordet worden war, wegen einer Patientin, die Ella gerettet hatte. Inzwischen wusste sie, dass alle geretteten Patienten irgendwann verschwanden, so wie Tanja verschwunden war. Nur die, die man nicht retten konnte, blieben. Und Annika, die erste richtige Freundin nach Tanja, war auch geblieben, bis Patrick sie fast getötet hätte.
Einem spontanen Impuls folgend, klickte sie auf Annis Bild in der Leiste mit den Fotos ihrer Freunde, um ihre Seite aufzurufen. Das Bild zeigte nicht wirklich Annika, sondern die junge Kriegerin aus dem Zeichentrickfilm Mulan, ihr Kopf in leuchtendem Rot und Schwarz. Die Seite klappte zu und wieder auf wie ein Fächer, doch statt dass Ella Annis Seite sah, starrte sie nur auf ein rotes Fragezeichen, unter dem stand: Profil nicht vorhanden.
Nein, Anni! Das geht nicht. Du kannst nicht einfach dein Profil löschen.
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Mit rasenden Fingern bearbeitete Ella die abgenutzte Tastatur ihres Laptops. Zuerst postete sie: Es gibt ein Profil-Update von Ella Bach. Dann schickte sie die Frage hinterher: Weiß jemand, warum Annika Jansens Profil nicht mehr existiert? Sie versuchte, Freundinnen von Anni zu finden, die ihren persönlichen Bereich nicht gesichert hatten, erhielt aber nirgendwo Zutritt.
Du musst dich um ihre Freundschaft bewerben.
Ella überlegte: Und wenn Anni ihren Account gar nicht selbst gelöscht hat, wenn jemand anderer es an ihrer Stelle getan hat? Keine Telefonnummer mehr, keine E-Mail-Adresse, keine Seite in LifeBook. Wollten sie sämtliche Spuren ihrer Existenz vernichten? Was ist los mit dir, Anni? Es gab weder neue E-Mails von ihr noch einen weiteren Anruf, aber auch der Brief, den sie angekündigt hatte, war bisher nicht eingetroffen.
Ratlos googelte Ella den Namen ihrer Freundin, und sofort liefen mehrere Einträge die Seite hinunter, darunter auch das Link zu ihrer LifeBook-Seite. Ella klickte ein Video auf YouTube an, das einen der letzten öffentlichen Auftritte von Anni vor ihrer Erkrankung zeigte, aufgenommen bei einem Vortrag zum Thema »Die Intelligenz des Schwarms im Internet«, offenbar mit einem Handy von einem Zuhörer im Publikum.
Da stand sie auf dem Podium hinter einem durchsichtigen Rednerpult, in einer schwarzen Hose, einem schwarzen Jackett und einem haselnussbraunen Rollkragenpullover, so schön wie bei ihrer ersten Begegnung, nur zehn Jahre älter. Aber noch immer waren da die blitzenden tiefseeblauen Augen, die kurzen hellbraunen Haare, die Milchstraße von Sommersprossen im Gesicht und die mitreißende Leidenschaft – die vor allem.
»Machen wir uns nichts vor, verehrte Kolleginnen und Kollegen«, rief sie, »Menge oder Masse produzieren allein noch keine Intelligenz. Außerhalb der Tierwelt gibt es die Intelligenz des Schwarms nicht, denn wenn es sie gäbe, wäre das Dritte Reich der intelligenteste Staat aller Zeiten gewesen. Die Schwarmintelligenz ersetzt die Intelligenz des Einzelnen nicht. Und selbst in der Tierwelt fehlt ihr das Wichtigste, ohne die es keine fruchtbare Intelligenz geben kann – die Empathie. So etwas wie die Empathie des Schwarms existiert nicht, und d eswegen ist es für einen Menschen nicht nur unsinnig, sich nach den Zielen des Schwarms zu richten oder sich seinem Verhalten anzupassen, es bedeutet vielmehr den Verlust des Menschlichen selbst.«
Sie schwieg, ihre Augen blitzten, und um ihre Lippen geisterte ein Lächeln, dieses Lächeln, um das Ella sie immer beneidet hatte, weil es so warm war.
Verdammt, Anni, du fehlst mir.
In einem anderen Film sah man sie bei einer Diskussion über »Lon eliness, Pain and Addiction« auf einem Podium sitzen. Die Teilnehmer – Ärzte, Psychologen und Pharmavertreter – sprachen Englisch. Hier waren Annis Gesichtszüge schärfer, im Haar gab es den Anflug eines viel zu frühen Grau, und der Glanz in ihren Augen wirkte unnatürlich. Sie trug eine bunte Strickjacke, offenbar Missoni, Turnschuhe und einen eng geschnittenen grauen Wollrock. Anscheinend ging es bei dem Clip nicht um das, was sie sagte, sondern um das, was plötzlich mit ihr geschah.
Sie hatte gerade zu einer leidenschaftlichen Replik auf einen Diskussionsbeitrag des Mannes neben ihr angesetzt – »Nein, das Ziel von Zuckerberg und Facebook ist es, die gesamte
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