Nukleus
Lippen mit einem Papiertaschentuch ab. Hinter seinem Kopf konnte sie durch das nasse Fenster verwischte Stiefel hin und her gehen sehen, und noch weiter dahinter die stürmischen Regenböen, die den Glanz erleuchteter Schaufenster verzerrten.
»Können Sie jemanden für mich anrufen?«, fragte der Mann. »Es ist wichtig. Ich komme nicht an mein Handy. Es steckt in meiner Sakkotasche, rechts oben.«
Ella sagte: »Wenn Sie hier raus sind, können Sie selbst anrufen.« Sie spürte, wie der Stoff ihrer Hose an den Beinen kalt wurde.
Der Mann sagte: »Es ist mein Sohn. Ich muss ihn von der Kita abholen. Er wartet da auf mich.«
Sie tastete nach ihrem eigenen Handy und drehte sich in der Hüfte, um es herauszuholen. »Wie ist die Nummer?«
»Eins – drei – acht – nein: sechs …«
Plötzlich schrie er. Es war ein gellender, lang anhaltender Schrei, schrecklich wie der eines Gefolterten. Der Schrei übertönte den Regen und die Martinshörner draußen auf dem Alex, und Ella dachte, ihr Trommelfell würde zerspringen. Vor Schreck ließ sie das Handy fallen; der Deckel sprang auf. »Was ist passiert?«, rief sie. »Haben Sie Schmerzen?«
Sein Gesicht schien nur noch aus Blut und Zähnen zu bestehen, der Mund eine offene Höhle, die Augen unsichtbar hinter zusammenpressten Lidern. Er hatte sich auf die Zunge gebissen, und jetzt rann noch mehr Blut aus dem linken Mundwinkel. Die Sehnen an seinem Hals spannten sich wie Drahtseile.
»Finn, ich brauche Ketanest!«, rief Ella, »und Dormicum, schnell!« Der Mann schrie weiter, ohne Unterlass. Finn pochte ihr auf die Kni ekehle, damit sie hinter sich langte und die Spritze mit dem schmerzhemmenden Angstlöser nahm, die er ihr hinhielt. Sie sagte: »Ruhig, gleich ist es vorbei! Gleich ist es vorbei!«, und dann stieß sie die Injektionsnadel in die Oberarmmuskulatur des Mannes.
Fast sofort entspannte sich sein zusammengekrampfter Körper. Der Schrei ging in ein Wimmern über, das Wimmern in stoßweises Atmen. Tränen strömten aus den geschlossenen Augen, und eine Hand, noch immer zur Faust geballt, fiel Ella ins Gesicht. Der Regen schien etwas nachzulassen; auf einmal war das Gehupe der draußen im Schritttempo vorbeirollenden Autos sehr laut. Ella wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht, denn etwas rann ihr in die Augen, entweder Schweiß oder Wasser oder Blut. Ihre gelben Kunststoffhandschuhe waren voller dunkler Flecken. »Besser?«, fragte sie den eingeklemmten Mann.
»Ja«, flüsterte er.
»Können Sie atmen?«
»Ja.«
Sie reichte die Spritze nach hinten, wo Finns Hand schon wartete, um sie ihr abzunehmen. Ella beobachtete ihren Patienten weiter. Sein Kinn zitterte, als weinte er. Dann öffnete er die Augen und sah sie an. »Sie sind schön«, sagte er. »Wie ein Engel.«
»Ich bin kein Engel«, sagte sie. »Ich bin nur eine Ärztin, mehr nicht.«
»Wie heißen Sie?«
»Ella. Ella Bach. Und Sie?«
»Jan.« Seine Lider fielen wieder zu. Seine Brust hob und senkte sich immer noch zu schnell. »Wenn ich die Augen zumache, dreht sich alles«, sagte er.
Ella sah die Stiefel näher kommen, vorbei an der nassgelben Seiten wand der Straßenbahn. »Ich muss Sie jetzt allein lassen«, sagte sie. »Die Männer von der Feuerwehr brennen darauf, Sie endlich rauszuholen.«
»Meine Frau hat mich verlassen«, sagte er und öffnete die Augen so kurz, dass es ausah, als blinzelte er ihr zu. »Ich habe einen Moment nicht aufgepasst, und da war sie weg … Sylvia.«
»Ich verlasse Sie nicht, Jan. Ich bleibe bei Ihnen. Ich bin da draußen.«
Ella robbte zurück, auf Hüften und Ellbogen und Zehen. Ihr Handy summte. Es lag neben ihrem Kopf auf dem Wagendach, zwischen den Sicherheitsglaskügelchen, und das Display leuchtete im Rhythmus des Summtons, Anrufer unbekannt.
Der Mann, der sich Jan nannte, fuhr unterdessen wimmernd fort: »Mein Sohn … Erik … Ich muss leben … für Erik. Er ist bei mir geblieben. Wir warten zusammen … bis sie wiederkommt …«
Ella griff nach dem Handy. »Er kann froh sein, dass er Sie hat, Ihr Sohn.«
Eine Männerstimme hinter ihr rief: »Frau Doktor, können wir ihn jetzt rausholen?«
»Ja«, rief Ella. Sie spürte Hände an ihren Fußgelenken, die ihr halfen, sich durch das Fenster zu zwängen. Dabei rutschte sie mit dem Daumen auf die Empfangstaste des Handys. Das Display zeigte undeutlich ein farbiges Bild. Das Bild blieb einen Moment statisch, wie ein mitten in der Bewegung angehaltener Film. Dann fing es an, sich ruckartig zu
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