Nukleus
bewegen, aber Ella erkannte nicht, was es darstellen sollte, während sie rückwärts in den Regen hinausrobbte und dabei gleichzeitig weiter ihren Patienten zu beobachten versuchte.
Als sie draußen war, half Finn ihr hoch. »Schafft er es?«
»Wenn er keine inneren Verletzungen hat und das Rückgrat heil geblieben ist.« Der Regen schlug ihr ins Gesicht, und der Film auf dem Display ihres Handys ließ sie für Sekunden alles um sich herum vergessen. Denn jetzt erkannte sie, was sie sah. Instinktiv hielt sie die Hand über den kleinen Schirm. Niemand sollte Zeuge werden von der Scham des Mädchens – nur sie und die Jungen, die es da gerade vor ihren Augen vergewaltigten.
Es war dunkel an dem Ort, an dem die Vergewaltigung geschah, ein Hausflur oder das Erdgeschoss eines Abbruchhauses, nur Schatten und diffuse Helligkeit. Einer der Jungen hielt die junge Frau von hinten mit einem Würgegriff fest, den Unterarm gegen ihre Kehle gepresst. Ihr Gesicht war verzerrt, die Augen, der Mund, alles verzerrt vor Angst und Abscheu, die Lippen verwischt, rot, speichelig. Ihr Unterleib war nackt, die Jeans baumelten an einem Bein. Das Top war eingerissen, damit die Brüste zu sehen waren.
Der Junge, der sie hielt, verbarg sein Gesicht hinter ihrem Kopf, doch der andere, der sie von vorn vergewaltigte, drehte sich jetzt zu der Handykamera um und grinste. Amal. Ella konnte noch einen dritten Jungen sehen, hinter Amal und dem blonden Mädchen. Der dritte hielt ebenfalls ein Handy, sie waren zu viert, aber der, auf den es ankam, war Amal. Er grinste in das Handy, er grinste auf Ellas Display, und das war es, dachte sie, darauf kam es auch an: dass es mein Display ist.
Das Mädchen war blond, eine deutsche Schlampe, die von einem Abou-Khan gefickt wird, eine Deutsche, damit Ella die Botschaft verstand: Genau das machen wir auch mit dir, wenn du noch einmal mit unserer Schwester sprichst. Und Ella verstand. Ohne dass sie es merkte, hatte sie zu zittern begonnen; ein kaltes, eisiges Zittern. Sie starrte auf das kleine Handydisplay und wünschte mit verzweifeltem Zorn, an diesem dunklen Ort zu sein und eine Waffe zu haben, irgendetwas, eine Pistole, ein Messer, vielleicht sogar nur einen Stein, ja, einen großen Stein, um dazwischenzugehen, so lange damit auf Amal einzuschlagen, bis er das Mädchen losließ und sich wimmernd auf dem Boden krümmte.
Amal hob eine Augenbraue, seine Lippen formten einen verächtlichen Kuss. Dann wandte er sich zwischen ihren Schenkeln wieder seinem Opfer zu. Die Kamera zoomte auf das Gesicht des Mädchens, und einen Herzschlag lang dachte Ella, sie könnte es schreien hören, einen langgezogenen, markerschütternden Schrei, bis sie erkannte, dass es das Karosserieblech des Renault war, das unter dem Zangengriff der Rettungsschere barst.
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Es reicht. Sie saß auf dem Beifahrersitz des Sprinters und dachte, es reicht jetzt. Nur undeutlich nahm sie durch das beschlagene Fenster das Verkehrschaos um die Unfallstelle wahr, die Ansammlung von Einsatzwagen, die Passanten, die trotz des Regens stehen geblieben waren und auf dem Bürgersteig vor den erleuchteten Schaufenstern der Boutiquen verharrten, um zu gaffen. Sie spürte, wie ihre Nase zu laufen begann und das Salz in ihren Augen brannte. Sie schluckte, mit zusammengepressten Lippen, um nicht zu heulen vor Wut.
Es reicht, verdammt nochmal! Ich habe die Schnauze voll von diesen großspurigen libanesischen Gangstern mit ihren Drohungen, ihrem breitbeinigen Männergehabe, ihrer Brutalität, ihrer lächerlichen Ehre und ihrer Verachtung von allem, was nicht männlich ist. Ich habe mir schon viel zu viel gefallen lassen, weil ich an Shirin gedacht habe; weil ich gedacht habe, dass sie ihren Vater und ihre Brüder braucht, wenn sie wieder aufwacht, aber damit ist jetzt Schluss!
Mit zitternden Fingern wählte sie die Auskunft und ließ sich mit dem LKA verbinden. Dort fragte sie nach Kommissar Abdallah. »Ich habe einen Film auf meinem Handy, den Sie sich anschauen müssen«, sagte sie. »Er zeigt, wie Amal Abou-Khan und drei andere Jungen ein Mädchen vergewaltigen.«
Abdallah atmete tief ein und aus. »Sie wissen, was passiert, wenn Sie mir diesen Film zeigen?«, fragte er.
»Sie verhaften Amal und die anderen«, sagte Ella.
»Und es vergehen keine zwölf Stunden, dann holt ein von Präsident Halil bezahlter Staranwalt ihn wieder raus. Und danach fängt der Ärger für Sie erst richtig an.«
»Das ist mir egal«, sagte Ella. Durch das leicht
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