Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
Vom Netzwerk:
beschlagene Fenster sah sie zu, wie die Feuerwehrmänner den eingeklemmten Mann aus seinem zerstörten Wagen befreiten. »Ich will, dass er zur Rechenschaft gezogen wird.«
    Abdallah seufzte. »Schicken Sie mir den Film auf mein Handy, aber wenn ich etwas damit anfangen soll, brauche ich auch die Aussage des Mädchens, und die werde ich nicht kriegen. Das Mädchen finde ich möglicherweise, aber die Familie wird es so unter Druck setzen, dass es sich eher die Zunge herausschneidet, als Amal zu beschuldigen.«
    »Dann muss ich mir was anderes überlegen«, sagte Ella, und noch immer zitterte sie innerlich. Mein Vater ist ein guter Mann, ein guter Mensch, weißt du? Aber er ist stolz auf seine Söhne. »Den Film schicke ich Ihnen trotzdem.«
    » Der König der Löwen wäre mir lieber. Den könnte ich mir mit meinen Kindern anschauen. Ach, übrigens, die Männer, mit denen Sie vergangene Nacht Verstecken gespielt haben, waren tatsächlich von uns. Hagen hatte sie zu Ihrem Schutz abgestellt, allerdings ohne Sie darüber zu informieren, wenn ich das richtig verstanden habe. Soll ich sie abziehen oder Ihnen ein neues Team zuteilen?«
    »Soll das heißen, es existiert keine schriftliche Anweisung Ihres Kollegen?«, fuhr Ella fort. »Gibt es nicht wenigstens so was wie eine Aktennotiz über den Einsatz vor meinem Haus?«
    »Wenn, dann müsste man lange danach suchen, bei dem Durcheinander, das er bei seinem Tod hinterlassen hat. Hagen war nicht gerade für seine …« Er unterbrach sich, ehe er mit veränderter Stimme fortfuhr: »Sie glauben doch nicht, die könnten gekauft worden sein?«
    »Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.«
    Nicht nach dem, was ich mit Beamten des Berliner LKA schon erlebt habe. Eine Gestalt erschien am Fenster des Sprinters, klopfte gegen die Tür. »Wir können den Patienten jetzt übernehmen«, rief Finn von draußen.
    »Ich muss Schluss machen«, sagte Ella. »Also – hier kommt Der König der Schweine .« Sie nahm das Handy vom Ohr und drückte auf die Taste zum Versenden einer Datei und schickte Abdallah den Film, den er sich nicht mit seinen Kindern anschauen konnte. Dann stieg sie aus und lief durch den Regen zu dem Renault. Finn und der zweite Rettungsassistent waren schon dabei, den aus dem Wrack befreiten Mann vorsichtig auf eine Vakuummatratze zu legen. Der Mann war noch bei Bewusstsein. Der Regen schlug ihm ins Gesicht, doch er schloss die Lider nicht, sondern schien die Tropfen zu beobachten, auf ihrem ganzen langen Weg aus dem schiefergrauen Himmel in seine Augen. Zwei Feuerwehrmänner hielten eine Plastikplane über ihn und die Trage, während der zweite Rettungsassistent den Tropf anschloss, aber sie hielten sie zu hoch. Das rechte Bein des Mannes wies in der Mitte einen Knick auf, als wäre es nicht mehr aus einem Stück; weiß ragte ein Stück Knochen dicht unter dem Knie aus der zerfetzten, blutverkrusteten Hose.
    Ella öffnete die Hecktür des RTW und sah zu, wie die beiden Ret tungsassistenten die Trage in den Patientenraum hievten – nasses Haar, bleiche Haut, Blut –, und plötzlich war es nicht der eingeklemmte Mann, den sie anschaute, sondern Anni, und sie dachte: Warum hat sie so lange in der Wanne gelegen?
    Sie erinnerte sich ganz deutlich an ihre Unterhaltung vor einem Jahr, auf der Fahrt von Paris nach Mont-Saint-Michel. Im Wagen, am Morgen nach einer langen Nacht, hatte Annika erschöpft, fast verbittert, darüber gesprochen, wie anders ihr Leben durch die Krankheit geworden war.
    »Die Anfälle kommen jetzt in kürzeren Abständen, trotz der Medikamente. Du lebst wie in einer Landschaft ohne festen Boden, kannst dich aber nicht mal auf die Bodenlosigkeit verlassen. Du kannst jederzeit den Halt verlieren, einbrechen, und diese ständige Erwartung ist es, die dich fast umbringt. Schon der nächste Schritt kann dir wieder das Fundament unter den Füßen wegreißen. Es gibt nichts mehr, worauf du dich verlassen kannst, keine Sicherheit, und jedem, der mit dir zu tun hat, geht es genauso.«
    Ella stieg zu dem Patienten in den Wagen und setzte sich neben ihn, und Anni stieg mit ihr ein.
    »Schwimmen gehen?«, sagte Anni in ihrem Kopf. »Zu gefährlich, man kann ja plötzlich einen Anfall kriegen und ertrinken. Allein in der Badewanne? Dasselbe. Reiten? Auf eine Leiter steigen? Gar nicht dran zu denken, man fällt runter und bricht sich das Genick. Auto fahren? Du meine Güte, viel zu gefährlich, man verliert die Kontrolle über das Fahrzeug und verursacht einen

Weitere Kostenlose Bücher