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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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tödlichen Unfall. Essen? Immer das Risiko, sich zu verschlucken und zu ersticken. Liebe, Hass, Sex? Bloß keine starken Gefühle! Im einen Moment wirkst du fast normal und fühlst dich auch so, im nächsten Moment verdrehen sich deine Augen, du fängst an zu zucken und zu schmatzen, gibst komische Geräusche von dir, als wärst du von einem Dämon besessen, der dich dann durch die Luft schleudert, du fällst und fällst und dabei zerbeißt du dir die Zunge und pisst dich voll …
    Finn nahm auf der anderen Seite des Patienten Platz, und der zweite Assistent schlug die Hecktür zu und ging nach vorn, setzte sich ans Lenkrad. Die Sirene heulte auf. Der Sprinter fuhr los, rollte an der havarierten Straßenbahn vorbei.
    »Manchmal«, Ella konnte Annis Stimme hören, als säße sie neben ihr, »manchmal lebst du stunden-, tage- oder sogar wochenlang in einem Dämmerzustand und sehnst dich danach, dass endlich der An fall kommt, der dich erlöst und den Schleier um dich zerreißt, die Käse glocke mit einem Blitz zersprengt. Oder du wirst rasend, aggres siv – du musst dich unglaublich beherrschen, weil nämlich ein win ziges Fünkchen reicht, und du springst jemand mit dem nackten Arsch ins Gesicht oder ziehst ihm eine Flasche über den Schädel. Ich habe sogar schießen gelernt, falls ich wirklich mal so weit sein sollte, dass ich jemand abknallen möchte.«
    Patrick Cassidy, zum Beispiel.
    Sie hatte Ella den Kopf zugewandt und sie angesehen, mit Augen wie heißes, frisch geblasenes Glas. »Es sind die Nächte, weißt du«, hatte sie gesagt. »Die, in denen man nicht mehr wie früher sanft in den Schlaf hineingleiten will, sondern sich im Bett aufbäumt. Man fühlt sich, als hätte man Scherben gegessen, und wenn man in sich hineinschaut, sieht man sie da unten glitzern, scharf und gefährlich und so wirklich, dass man einen Straßenkehrer runterschlucken möchte, damit der da drinnen alles auffegt. Und dann kommt die Angst – eine Angst, die so groß ist, dass du denkst, sie zerreißt dir die Brust und dein Schädel platzt, weil du diesen Druck auf dein Gehirn einfach nicht mehr aushalten kannst. Ich bin einfach müde, weißt du. Und ich sehne mich zurück nach der Möglichkeit, sanft zu sein.«
    Ella erinnerte sich noch gut, was sie darauf geantwortet hatte: »Du warst nie sanft«, hatte sie gesagt und Annika die Hände auf die Wangen gelegt. »Hör zu, du warst nie sanft, und ich möchte nicht, dass du darunter leidest, es nicht mehr zu sein, wenn du es nie warst.« Selbst jetzt noch, ein Jahr später, konnte sie die fiebrige Hitze spüren, die Anspannung, als Annis Kopf an ihre Schulter gesunken war. »Ich bin müde«, hatte Anni geflüstert. »Ich bin es müde, zu fallen.«
    Hast du dich deswegen umgebracht, weil du so müde warst? Weil du nicht mehr die Kraft hattest, immer und immer wieder aus deinem eigenen Leben zu fallen? Bist du dieses eine Mal doch in die Wanne gestiegen, um nicht wieder aufstehen zu müssen? Oder hat dich jemand hineingelegt, damit man genau das denken sollte? Hat Cassidy gelogen, und du bist gar nicht in einer Wanne gefunden worden und auch nirgendwo sonst, weil du noch lebst? Ich weiß nicht, was ich glauben soll, Anni.
    Was, verdammt nochmal, macht Detective Inspector Cassidy in deiner Wohnung, Anni? Warum geht er an dein Telefon?
    Ella betrachtete den Mann auf der Trage vor ihr, der nun künstlich beatmet wurde.
    Sie hat sich nicht umgebracht, dachte sie. Das würde Anni nie tun, weil es bedeutet hätte, ihre Patienten im Stich zu lassen; sie hat noch nie im Leben jemanden im Stich gelassen.
    »Ich analysiere nicht, ich therapiere nicht, ich bewache sie nur. Ich bin ihr Wachtposten an der Grenze«, das waren ihre Worte gewesen.
    »An welcher Grenze?«, hatte Ella an jenem Morgen im Wagen gefragt.
    »Der, auf der die meisten von ihnen gerade gehen, wenn sie zu mir kommen – der schmalen Grenze zwischen zwei existentiellen Kräften: dem Chaos und dem Menschen. Ich bin ihr Wachtposten, ich stehe auf ihrer Seite der Grenze, bei ihnen, damit sie nicht aus Versehen hinü berrutschen.«
    Ella dachte daran, wie Anni damals trotz ihrer Krankheit sofort alles stehen und liegen gelassen hatte, um nach Berlin zu kommen; um ihr zur Seite zu stehen, als ihr Leben in Gefahr war.
    Sie musste annehmen, dass ich vielleicht ihren Bruder umgebracht habe, und trotzdem ist sie gekommen. Was mache ich noch hier? Warum bin ich nicht längst in London, um jetzt sie vor dem Chaos zu beschützen?

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    Der

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