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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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dir?«
    »Besser«, sagte Ella. Sie hatte einen starken Kaffee ohne Milch und Zucker getrunken, und die Kopfschmerzen waren fast verschwunden. Julian schien zu erwarten, dass sie noch mehr sagte, aber das tat sie nicht. Er räusperte sich noch einmal, dann sagte er: »Ich rufe an, weil ich einen Brief für dich habe.«
    »Ich glaube, ich will deinen Brief nicht«, sagte sie.
    »Der Brief ist nicht von mir.« Jetzt klang seine Stimme unwillig. »Er steckte in einem an mich adressierten Kuvert, auf dem kein Absender stand. Als ich es aufgemacht habe, enthielt es nur einen weiteren Umschlag mit deinem Namen darauf, und ich wollte wissen, ob du …«
    Der nächste Stromschlag, diesmal fuhr er ihr direkt ins Herz wie bei einer Reanimation. Anni. Sie lebt! Sie hat Wort gehalten, und in dem Brief wird sie mir alles erklären. »Nicht am Telefon!«, stieß Ella hastig hervor. »Kannst du das Kuvert auf der Station für mich hinterlegen?«
    »Sicher, aber wer …«
    »Tu es einfach«, fiel sie ihm wieder ins Wort. »Gibt es eine Änderung in Shirins Zustand?«
    »Ich bin noch zu Hause«, erklärte Julian. »Hast du heute Dienst?«
    »Ja. Gleich, Spätschicht.« Ella schaute auf ihre Armbanduhr. »Ich muss Schluss machen. Vergiss den Brief nicht, wenn du in die Klinik fährst.«
    »Aber …«
    Doch Ella hatte das Gespräch schon beendet.

2 4
    »Können Sie mich hören?«
    Der Regen war ganz plötzlich gekommen. Er trommelte so heftig auf den Boden des umgestürzten Renault, dass er jedes andere Geräusch verschluckte. Der zusammengequetschte Wagen lag auf dem Dach neben den Gleisen der Straßenbahn, die er gerammt hatte. Die Fahrbahn war übersät mit Glassplittern, und glitschiges Laub klebte schwarzbraun auf dem nassen Asphalt.
    »Haben Sie Schmerzen?«
    Wegen des Regens war es früh dunkel geworden, aber die Scheinwerferkegel der Autos, die an der Unfallstelle vorbeigelotst wurden, streiften unablässig durch den Innenraum des umgestürzten Renault. Die Frontscheibe war geborsten. Das zu Kügelchen zersprungene Sicherheitsglas lag wie glitzerndes Konfetti auf dem Wagendach unter Ella und dem Mann, der den Wagen gefahren hatte. Der Mann hing mit dem Kopf nach unten im Sicherheitsgurt hinter dem Lenkrad. Sein Kopf war von dem fast bis zur Nackenstütze eingedellten Fahrzeugdach gegen die linke Schulter gedrückt worden. Es sah aus, als wäre sein Genick gebrochen. Sein Gesicht war abwechselnd rot, blau und gelb im Widerschein der flackernden Warnlichter rings um die Unfallstelle. Er blutete aus Mund und Nase, und Blut rann auch aus dem linken Ohr auf seine Anzugjacke. Er sah Ella mit weit geöffneten Augen an.
    »Können Sie mich verstehen?«, fragte sie noch einmal.
    »Ja.«
    »Haben Sie Schmerzen?«
    »Nein.«
    »Können Sie Ihre Beine spüren?«
    Er schien zu überlegen. »Nein.«
    Kein gutes Zeichen, dachte sie. Er konnte hören, aber nicht fühlen; vielleicht waren Nervenbahnen durchtrennt. Seine Augen blickten starr. Schatten des Wassers, das in silbrigen Bächen das Seitenfenster hinabströmte, trieben wie Rauchfetzen durch seine Pupillen.
    »Sie sterben mir jetzt aber nicht, oder?«, sagte sie.
    »Ich weiß nicht«, sagte er.
    »Wartet etwa jemand im Himmel auf Sie?«
    »Nein … eigentlich nicht.« Seine Beine schienen ebenfalls eingeklemmt zu sein, denn der Motor war durch das Spritzblech in den Pedalbereich geschoben worden. Die Feuerwehr hatte Motor, Benzintank und Teile des Innenraums mit Löschschaum vollgesprüht, und da, wo kein Schaum war, ragten die Eisenteile der verbogenen Karosserie spitzzackig in den Innenraum.
    »Ich habe Durst«, sagte der Mann.
    Ella lag mit dem Oberkörper auf dem Beifahrersitz, Bauch nach unten. Ihre Beine ragten durch das zersplitterte Fenster auf der Beifahrerseite in den peitschenden Regen. Die Feuerwehr hatte versucht, die Tür aufzustemmen, aber sie klemmte fest, und Ella war durch das Fenster zu dem Fahrer gekrochen. Es roch nach Motoröl, verbranntem Gummi, Benzin, muffigen Polstern und Urin. Ihr Mund befand sich dicht neben dem blutenden Ohr des hängenden Mannes. »Sie können so nicht trinken«, sagte sie. »Die haben Sie hier bestimmt bald herausgeholt, dann kriegen Sie was gegen den Durst.«
    Plötzlich musste er husten, und Ella hatte Angst, dass er ersticken könnte. Er hustete, ohne dass sich sein eingeklemmter Kopf bewegte, aber nach einer Weile hörte er wieder auf und atmete nur noch etwas schneller. Feuchtigkeit gurgelte in seiner Kehle. Ella tupfte ihm die

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