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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Badewanne.«
    Das Vibrieren in ihrer Brust wurde stärker, breitete sich aus, flimmerte nun rund ums Herz. »Wer sind Sie?«, fragte Ella. »Sind Sie Polizist?«
    »Bin ich.«
    »Wie heißen Sie?«
    Plötzlich kannte sie die Antwort; sie wusste, was er sagen würde.
    »Detective Inspector Cassidy.«
    »Patrick Cassidy?«, fragte Ella. »Von Scotland Yard?«
    Jetzt schwieg er überrascht, argwöhnisch. »Woher kennen Sie meinen Namen?«
    »Woher wissen Sie, dass ich Ärztin bin?«
    »Wir haben Ihren Namen in Mrs. Jansens Computer gefunden«, sagte Cassidy.
    »Sie hat Ihnen nicht von mir erzählt?«
    »Nein.«
    » Mir hat sie von Ihnen erzählt.«
    Er schwieg wieder.
    »Ich will Anni sehen«, sagte Ella.
    »Sie hat ziemlich lang in der Wanne gelegen.«
    »Ich komme nach London.«
    »Sie sollten sie so in Erinnerung behalten, wie Sie sie zuletzt gesehen haben.«
    »Das werde ich trotzdem«, sagte Ella. »Können Sie mir Ihre Telefonnummer und die Ihres Reviers geben?«
    »Sie können hier nichts tun«, sagte Cassidy.
    Ella sagte: »Ich kann Ihr Revier auch ohne Ihre Hilfe ausfindig machen.«
    »Whitechapel«, sagte er. »Die Telefonnummer finden Sie im Telefonbuch.«
    »Danke«, sagte Ella kühl. »Wer kümmert sich um die Beerdigung?«
    »Darüber wird entschieden, wenn die Gerichtsmedizin mit der Leiche fertig ist.«
    Mit der Leiche meiner Freundi n. Ellas Hand umklammerte den Hörer so heftig, dass die Fingerknöchel schmerzten. Sie wartete darauf, dass er die Verbindung unterbrach, der Mann, der Anni so misshandelt hat, dass ihr Gehirn Schaden genommen hat, dass sie für immer eine an dere geworden ist. Stattdessen hörte sie ihn atmen, nur ihn, keine anderen Geräusche im Hintergrund. Dann räusperte er sich und fragte: »Hat Mrs. Jansen Familie in Deutschland? Eltern? Geschwister?«
    »Nein«, antwortete Ella. »Sie hatte einen Bruder, aber er ist letztes Jahr gestorben.«
    »Sonst niemand?«
    »Nein.« Niemand, der Fragen stellen könnte. Niemand, der schreit. Warum schreit niemand? Wo bleibt der Schrei? Da ist doch etwas Unglaubliches geschehen, etwas Grauenvolles. Warum schreie ich nicht? »Warum?«, fragte sie.
    »Warum sie es getan hat?«
    »Ja.«
    »Sie war krank, und die Krankheit wurde schlimmer. Kann sein, dass sie nicht mehr die Kraft …«
    »Woher wissen Sie das?«, fragte Ella. »Hat Sie mit Ihnen darüber gesprochen?«
    »Ich habe sie fast zwei Jahre nicht gesehen.«
    Du errätst nicht, wen ich kürzlich wiedergesehen habe. Patrick!
    »Es hätte ja sein können, dass Sie ihr zufällig über den Weg gelaufen sind«, sagte Ella.
    »Mrs. Jansen – Anni – war niemand, dem man zufällig über den Weg läuft, schon gar nicht in einer Stadt wie London. Nach allem, was man hört, lebte sie sehr zurückgezogen, wegen ihrer …«
    »… Krankheit, ich weiß«, sagte Ella. »AufWiedersehen.« Sie legte auf und sah ihre Hand an, in die langsam das Blut zurückkehrte. Sie war wie betäubt. Anni war meine beste Freundin. Sie hat sich umgebracht, warum wusste ich nichts davon?
    Plötzlich fiel ihr das letzte Gespräch in Berlin ein, kurz vor Annis Rückkehr nach London, am Südkreuz auf dem Bahnsteig. So verdammt wenig Zeit, hatte Anni gesagt; von der schlechten Zeit gibt es genug, aber so wenig von der guten.
    »Warum denkst du nicht über die Operation nach«, hatte Ella gesagt, »ernsthaft, meine ich. Eine OP könnte den Epilepsieherd im Gehirn ausschalten …«
    »Wenn einem nur noch so wenig Zeit bleibt, denkt man über alles ernsthaft nach«, hatte Anni sie mit einem schwachen Lächeln unterbrochen. »Das heißt aber nicht, dass man jedes Risiko eingeht. Ich will selbst entscheiden können, wann ich sterbe!«
    Ella sah sich selbst in dem Garderobenspiegel, der neben dem Telefontischchen hing. Was bedeutet das, sie hat ziemlich lange in der Wanne gelegen?, schoss es ihr durch den Kopf. Ein Selbstmord – nach all den Anrufen und nach allem, was sie mir geschrieben hat? Und ausgerechnet Patrick Cassidy untersucht die Todesumstände? Sie starrte ihr Gesicht an. Es war blass, aber gefasst. Sah so jemand aus, der gerade erfahren hatte, dass seine beste Freundin sich umgebracht hatte? Wo blieb ihr Schrei? Wo blieben die Tränen? Unbewegt betrachtete sie sich und dachte: Wie gut das alles zusammenpasst.
    Gerade als sie die Wohnung verlassen wollte, summte ihr Handy. Sie meldete sich, und der Anrufer sagte: »Ella, ich bin’s, Julian.« Er räusperte sich, als wollte er Zeit gewinnen. »Wie geht es

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