Nukleus
eindeutig zu ihm gehört wie unsere DNA zu unserem Körper. Bei mir – und bei dir und vielleicht bei jeder Frau – waren es die verdammten Männer, genauer, die falschen Männer und dass man sich immer gerade in den verliebt, der einen am wenigsten verdient. Eine fixe Idee. Selbst wenn es nicht das Thema zu sein schien, entpuppte es sich als Variation. Ich weiß nicht, ob Obsession das richtige Wort dafür ist, aber es hat in jedem Fall damit zu tun. In Sachen Liebe war ich wie ein Blinder, der sich im Dunkeln die Fingernägel schneiden will. Als ich Patrick kennengelernt habe, damals im Urlaub auf Mallorca, hätte ich rennen sollen, so schnell und so weit weg, wie ich konnte. Stattdessen habe ich mich ihm an den Hals geworfen – vielleicht, weil Wegrennen nichts genutzt hätte.
Der Teufel findet dich überall.
Du wunderst dich wahrscheinlich darüber, dass der Begriff so oft fällt: Teufel. Ich kenne das Bild, das du von mir hast: Annika glaubt nicht an Gott. Sie glaubt nicht an ein Leben nach dem Tod. Sie glaubt nicht an die in Stein gemeißelten göttlichen Gebote. Sie glaubt nicht daran, auch die andere Wange hinzuhalten. Sie glaubt nicht daran, dass die Armen im Geiste selig sind oder dass den Schwachen dereinst die Erde gehören wird. Sie glaubt nicht an die Macht und die Herrlichkeit. Sie glaubt nicht einmal mehr an Logik oder rationales Denken. Auch nicht daran: »Was du nicht willst, dass man dir tu …« Und selbst wenn sie noch daran glauben würde, dürfte es niemand erfahren, aus Selbstschutz.
Annika lebt Tür an Tür mit dem Nichts.
Als ich mich damals in London niedergelassen habe, ging es in meiner Praxis anfangs zu wie in einem Taubenschlag, allerdings ein Taubenschlag auf einem Gemälde von Hieronymus Bosch. Mit dem Titel » Das Londoner Finanzviertel«. Ein einziges Krisengebiet: lauter verletzte, verkrüppelte, gequälte Seelen, die sich danach sehnten, wieder fliegen zu können. Dabei lebten einige davon buchstäblich in der Luft – in Airbussen, Transithallen, Business-Class-Sesseln und Hotelzimmern, die überall gleich aussehen in dieser Welt über unserer Welt.
Aber irgendwann haben sie ihr Reisegepäck aufgemacht und darin das Grauen entdeckt: Angstattacken, Depressionen, Impotenz, Alkoholismus, Magengeschwüre, Herzanfälle, Schlaflosigkeit, Burn-out waren ihre ständigen Begleiter. Nur ein paar Fälle: Ein Rohstoffbroker kriegte jede Nacht Besuch von einem afrikanischen Medizinmann, der ihn verfluchte, allerdings im Traum. Ein Hedgefondsmanager fühlte sich bedroht von Algorithmen, die er unter seiner Haut krabbeln sehen konnte. Ein erfolgreicher Journalist erblickte sich jeden Abend selbst auf der anderen Straßenseite, als Kind, das vorwurfsvoll zu ihm herübersah und dann in Flammen aufging. Und eine Pornodarstellerin mit Aids, die sich mit Rasierklingen schneiden musste, um überhaupt noch irgendwas zu spüren. Die reine Poesie.
Außerdem gab und gibt es noch die, die einfach nicht mehr verstehen, was um sie herum vorgeht. Die am Rand. Die besuchte ich in der Klinik – die Opfer der Spaßgesellschaft, die sich für sie in eine Leidensgesellschaft verwandelt hat. Geld ist da nur noch ein Phantom, eine Idee, etwas, das Gerüchten zufolge existiert, in anderen Händen, an anderen Orten. Sie sind von dem ganzen Müll krank geworden, mit denen wir heutzutage zugeschüttet werden, den Castingshows im Fernsehen, dem Essen in Fast-Food-Restaurants, den Abgasen in der Luft. Nach und nach wurde mir klar, dass heute niemand mehr stirbt, weil seine Zeit gekommen ist; kein Tod hat noch eine natürliche Ursache. Wir werden alle ermordet. Ich kam mir vor wie eine Exorzistin.
Aber zurück zu Patrick. Ich glaube, er wird versuchen, mich zu töten. Nicht er selbst. Der, der in ihn gefahren ist. Aber mach dir keine Sorgen um mich, ja? Morgen gehe ich zu Freunden, bei denen mich keiner findet, weil niemand weiß, dass es Freunde von mir sind. Sie wissen es nicht einmal selbst. Und sie werden mich auch nicht verraten, weil sie es nicht können, und wenn sie es könnten, würden sie es nicht wollen, denn ihre Loyalität ist grenzenlos.
Das Haus, in dem sich Annikas Praxis befand, stand an einem kleinen achteckigen Platz mit einem eingezäunten, dicht bepflanzten Park in der Mitte. Es war ein mehrstöckiges Stadtpalais aus dem 18. Jahrhundert, flankiert von anderen Häusern gleicher Größe mit aufwendig renovierten Londoner Ziegelfassaden. Weißgerahmte Fenster blickten unter spitzen Giebeln
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