Nukleus
ihm, draußen vor dem Fenster, flog schwarz der Tunnel vorbei, die nächste Station nicht in Sicht. Eine Stimme, die niemand zu gehören schien, rief: »Eli, eli …«, und dann gab es wieder ein Krachen, diesmal begleitet von einem weißen Blitz, der für Sekunden alle in dem Wagen in Geister verwandelte, denen eine jähe Sturmbö die Haare vom Kopf zu reißen schien, weißer Blitz, flatternde, zur Fratze gespannte Haut, weißer Blitz, zu einem starren Grinsen auseinandergerissene Lippen , weißer Blitz, Masken, gespickt mit schwarzen Splittern, immer mehr schwarzen Splittern.
Das Mädchen auf den Blades rollte vom Ende des Waggons auf die Kamera zu, so leicht wie ein Papierdrachen an einem Sommerabend, ein kleines, verstörtes Gesicht über den Flügeln, und jetzt stieg Rauch ins Bild, und auf einmal zitterte das Handy, und wie bei einem rasanten Filmtrick schwenkte die Kamera um hundertachtzig Grad, verwischte alle Bilder, bis sie – ganz nah – das Gesicht des Mannes zeigte, sein Gesicht und sein seelenloses Lachen.
Im nächsten Moment schlug das Handy gegen seine Brust, und das Bild wurde dunkel, als es in der Manteltasche verschwand. Durch das dunkle Gewebe des Mantels sah man noch für Sekundenbruchteile ein Flackern, weiß und gelb und rot wie von einem fernen Feuerwerk, begleitet von einem weiteren Krachen, dem Peitschen eines Schusses. Dann nichts mehr, nur gedämpfter Ton: Schreie in der Dunkelheit, Scharren und Wimmern und Stöhnen über dem Rattern der Räder, und eine Stimme, die rief: »Nicht, Kind! Nicht, komm weg da, Kind!« Ein Geräusch wie von Metall, das über den Boden geschleift wurde, danach dieselbe Stimme wie vorher, nur leiser und nicht mehr so deutlich zu verstehen: »Leg dich hin – schau nicht auf!« Und noch leiser, wirklich kaum mehr zu hören: »Herr Jesu, Herr Jesu, sei bei uns, Herr Jesu, sei bei uns.« Zu guter Letzt noch einmal lauter: »Schau nicht hin! Schau nicht hin, Kind!« Dann nichts mehr, nur das scharfe Kreischen von Bremsbacken auf Eisen.
Hier endete der Clip, der endlos wirkte, obwohl er in Wirklichkeit nicht länger dauerte als anderthalb Minuten. Es war unheimlich, die Menschen, die Ella nur als Verletzte oder Tote gesehen hatte, lebend zu sehen. Das geschah sonst nie. Noch nie war sie bei einem ihrer Patienten Zeuge gewesen, wie er zum Rettungsfall wurde. Offenbar hatte der Attentäter die Aufnahmen selbst gemacht, um seine Tat zu dokumentieren.
Aber wie waren sie zu YouTube gelangt? Es war ja kein Livestream gewesen, dachte Ella. Wer hatte sie ins Netz gestellt? Außer Kornack kam dafür niemand infrage, bloß dass Kornack nun genauso tot war wie Scharnhorst. Und das Handy, mit dem er seinen Angriff auf Ella und Hagen gefilmt hatte, war gleichfalls verschwunden.
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Bächlein,
unterzutauchen ist nicht so einfach, egal, wie raffiniert man es anfängt. Ich habe verschiedene Orte ausprobiert. Sicherheit gibt es nirgends. Man macht lauter neue Erfahrungen, vor allem, wenn man durch einen Zustand wie meinen eingeschränkt wird. Aber vor einer Woche habe ich tatsächlich einen seltsamen – und seltenen – Moment der inneren Ruhe gefunden. Ich war in einem kleinen Dorf am Meer (keine Namen, nicht einmal welches Meer), und als ich auf einer Klippe stand und hinaussah auf die blau und grau heranrollenden Wogen, empfand ich plötzlich ein Gefühl der Freiheit: Ich konnte wieder atmen, ohne gegen einen tonnenschweren Druck auf meinen Lungen ankämpfen zu müssen.
Über mir sichelten Dutzende von Möwen durch die salzige Luft, berauscht von Jod, oder standen ohne einen einzigen Flügelschlag in einem Wind, der mir fast die Haare vom Kopf riss. Tief unter mir erstreckte sich märchenhaft weißer Sand. Alles war grenzenlos – weiß, blau, grün – bis zum Horizont. Über den Sand strömte die auslaufende Dünung, und in den flachen Wellen blitzten Sonnenlichtreflexe. Still und doch ruhelos, ständig bewegt. Wenn das unsere Seelen wären, dachte ich, so funkelnd, so schimmernd, so unberührt. Aber so sind sie nicht, wir sind nicht umgeben von Klarheit. Es gibt immer einen wilden, zornigen Wind, der uns das Glück verschlägt, wie er uns den Atem von den Lippen reißt, wenn wir oben auf einer Klippe den Mund öffnen; wir sind immer oben auf den Klippen und immer in Versuchung.
Der Teufel sieht zu. Der Teufel hat sein eigenes Netzwerk. Er findet unsere schwächste Stelle und benutzt sie gegen uns.
Das bringt mich zu Patrick. Jedes Leben hat sein Grundproblem, das so
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