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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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war, die du gestern in der Klinik bei eurem Telefonat zwischen all dem Rauschen gehört haben willst, sind seitdem schon wie der über vierundzwanzig Stunden vergangen, in denen alles Mögliche passiert sein kann.
    Sie könnte noch gelebt haben, als Patrick Cassidy dir sagte, sie wäre leblos in ihrer Badewanne aufgefunden worden, und trotzdem könnte sie jetzt tatsächlich tot sein. Und wenn es so ist? Dann suchst du die Wahrheit über ihren Tod, ob es ein Unfall war, Zufall oder Absicht, Suizid oder Mord.
    Gestern war der Patient, von dem ich dir schon ein paarmal erzählt habe, wieder da. Er ist mir immer etwas unheimlich gewesen, und ich wusste nie genau, warum. Aber beim letzten Termin hat er mir eine echt furchteinflößende Geschichte erzählt, bei der es mir eiskalt den Rücken hinuntergelaufen ist.
    Ella sah sich um, suchte nach Karteikästen, Audiokassetten oder Ordnern mit Therapieberichten. Sie versuchte sich zu erinnern, wel chen Patienten Anni in ihrer E-Mail gemeint haben könnte. Von wem hatte sie ihr erzählt? In dem Brief hatte sie ihn nicht wieder erwähnt. Ellas Blick fiel auf eine Vorrichtung an der Wand neben dem Kamin, die wie eine aufgerollte Leinwand für Filmprojektionen aussah. Sie zog an dem herunterhängenden Band und arretierte die etwa bettlakengroße Kunststofffolie, die sich vor ihr ausrollte. Die glatte weiße Fläche war von oben bis unten mit geometrischen Figuren bedeckt, schwarzen und roten Kreisen, farbigen Linien, die kreuz und quer zwischen den Kreisen verliefen, schraffierten Flächen.
    Ella trat ein paar Schritte zurück, um die Leinwand genauer zu betrachten. Sie versuchte zu ergründen, um was es sich bei den grafische Darstellungen handelte: um die Abbildung chemischer Prozesse oder physikalischer Gesetzmäßigkeiten? Um elektrische Schaltkreise? Um eine komplexe mathematische Aufgabenstellung? Um das Innen-‘leben einer Maschine, eines Computers? Um Synapsen und neuronale Kanäle, die Wanderungen von Gedankenimpulsen längs der violetten, gelben oder grünen Linien zwischen bestimmten Schnittstellen im Gehirn? Manche der Linien verliefen fast über die ganze Breite der Leinwand, andere endeten abrupt im Nirgendwo, wieder andere schlugen Haken, als hätte der Zeichner jählings einem unkontrollierten Gedankenimpuls nachgegeben.
    Ella befeuchtete die Daumenkuppe mit der Zungenspitze und rieb über die Zeichnung. Die Linien und Kreise verwischten nicht; keine abwaschbare Farbe. Es handelte sich also weder um die Darstellung eines Prozesses mit ungewissem Ausgang noch um einen provisorischen Entwurf oder einen reversiblen Vorgang.
    Einige der Schnittstellen waren beschriftet, aber die Begriffe waren Ella unverständlich. Offenbar handelte es sich um Chiffren oder Kryptogramme, die bestimmte Stadien in der Entwicklung von Objekten oder Subjekten wiedergaben, vollzogene oder noch nicht vollzogene Schritte auf dem Weg zu festgelegten Knotenpunkten und über sie hinaus. Doch nicht alle schienen denselben Weg zu nehmen, und für ein paar ging es nach dem Knotenpunkt nicht mehr weiter.
    Aber was bedeutete Einath510 oder Canopus610 oder Alphard1710 im Mittelpunkt der Kreise? Konnte es sein, dass diese Punkte Orte waren? Und wenn ja, wo lagen sie? Oder handelte es sich um Namen, die zu den Linien gehörten, um Zahlen und Buchstaben, die an die Pseudonyme erinnerten, mit denen manche Leute im Internet unterwegs waren? Einige der Begriffe wiesen keine Ziffern auf – Markab, Achernar, Hyaden, Sabik –, während sich in manchen Kreisen nur Zahlen fanden.
    Ella wusste nicht, warum, aber die labyrinthische Zeichnung mit der verschlüsselten Beschriftung war ihr unheimlich. Sie sah sie an und musste sich immer wieder daran erinnern, ruhig zu atmen. Auf einmal wurde ihr klar, dass sie hier nichts von dem finden würde, was sie suchte. Wenn Anni sich versteckte, hatte sie alle Unterlagen weggeschafft, jeden verräterischen Hinweis, sämtliche Patientenakten und Therapieaufzeichnungen. Und falls sie nicht mehr lebte oder entführt worden war, befand sich inzwischen natürlich alles, was sie dagelassen hatte, in der Hand der Polizei, verkörpert durch Patrick Cassidy.
    Und dann entdeckte sie doch etwas, halb verborgen in dem Ge strüpp aus Farben und Symbolen. Unter Einath510 stand winzig klein: YouTube, Subway assault, Berlin, 5. Oktober . Und unter Canopus610 genauso klein: YouTube, Attack of the Mad Medic, Berlin, 6. Oktober . Schlagartig wurde ihr eiskalt. »510« und »610« waren also

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