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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Nennen Sie das Leben? Soll Shirin wirklich so leben?«
    Halil wandte das Gesicht wieder ab. Er schien dem Fauchen des Respirators und den Herztönen des Monitors, dem Leben in den Maschinen zu lauschen. Dann sagte er: »Ich kann mit Trauer leben. Ich ertrage sie mit Würde, wenn ich es nicht ändern kann, dass ich traurig sein muss. Das haben Sie gesehen, das sehen Sie jetzt, hier. Ich bin stolz. Triumph genieße ich. Zorn belebt mich mit den Gedanken an Rache, nach der Trauer. Aber Scham …« Er stockte. »Scham kannte ich nicht. Und ich schäme mich. Ich schäme mich für Amal, für meinen ältesten Sohn. Ich habe Menschen getötet, aus guten Gründen, und ich würde es billigen, wenn Amal es tut, wenn er es aus guten Gründen tut. Ich habe viele Dinge getan, die notwendig waren, um meine Familie zu schützen, indem ich sie mächtig gemacht habe. Dinge, die Sie als Verbrechen bezeichnen würden. Unangreifbar sollte sie sein. Aber ich habe niemals jemandem Schmerzen zugefügt, nur um Schmerzen zuzufügen, und ich habe nie jemanden gequält, der es nicht verdient hätte. Ich habe nicht das Leben von Unschuldigen zerstört, um einem anderen Angst einzujagen. Was Amal getan hat, macht die Abou-Khans angreifbar, und wie er es getan hat, noch mehr. Es zerstört die Familie. Und es erfüllt meine Seele mit Scham, und mit dieser Scham kann ich nicht leben.«
    »Es zerstört die Familie auch, wenn er seine Schwester tötet«, sagte Ella. »Und wenn es die Familie nicht zerstört, macht es sie in jedem Fall noch angreifbarer. Wenn Sie Nerin beschützen, beschützen Sie auch Shirin. Und wenn Shirin lebt, braucht sie Schutz, nach allem, was sie gerade erlebt hat.«
    »Es ist nicht leicht, Präsident Halil zu sein.«
    »Weil Präsident Halil kein Mann ist, der es sich leicht macht«, sagte Ella und dachte, er muss es glauben, dann wird es wahr. Und ich muss es auch glauben.
    »Sie brauchen keine Angst mehr vor Amal zu haben«, sagte Halil mit trauriger Stimme.
    »Und vor Ihnen?«, fragte Ella.
    In diesem Moment veränderte sich die Atmosphäre in dem Zimmer, als ob die Luft flackerte. Etwas betrat unsichtbar den Raum oder ging hinaus, obwohl die Tür geschlossen blieb. Ella spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen sträubten.
    Shirin öffnete die Augen.
    Erst dachte Ella, es wäre eine Täuschung, nur ein Zucken von Schat ten und Licht. Aber es war keine Täuschung: Shirin sah zur Decke auf, nicht zu ihrem Vater hin, auch nicht zu Ella, nur zur Decke. Trotzdem war es, als sähe sie alles um sich herum. Sie lag ganz ruhig da, unbewegt. In diesem Augenblick schien es nur noch dieses Zimmer zu geben, als hätte es sich von der Klinik gelöst – von der Station, dem Gebäudetrakt, der Stadt, von der ganzen übrigen Welt. Dann schloss das Mädchen die Augen wieder, aber Ella spürte einen Unterschied. Shirin kam ihr voller vor, erfüllter, als hätte sich etwas in einer unsichtbaren, geisterhaften Abwärtsbewegung in sie gesenkt.
    »Haben Sie das gesehen?«, fragte Ella flüsternd.
    »Nein«, sagte Halil. »Was?«
    »Sie haben nichts gesehen?«
    »Nein.«
    Enttäuscht wandte Ella sich ab. Die Tür wurde geöffnet, und Nerin betrat das Zimmer. Sie trug ein Kopftuch. Sie trug auch eine Sonnenbrille, die zwar die dunkel verfärbte Schwellung rings um ihr linkes Auge halbwegs verbarg, die mit Schorf bedeckte, aufgeplatzte Unterlippe aber nicht. Als Ella sie ansah, senkte sie den Kopf. Ihr Vater sagte etwas auf Arabisch, und sie antwortete mit einem Wort, das nicht mehr so rebellisch klang, wie sie sonst antwortete. Sie ging zu Shirin, berührte ihre Hand. Nach ein paar Sekunden ergriff sie die ganze Hand und hielt sie. Dann drehte sie sich zu Ella um. »Was haben Sie gemacht?«, fragte sie.
    Ella spürte noch einmal, wie das Kribbeln ihre Arme überzog. »Was meinen Sie?«
    »Sie ist anders.«
    Halil fragte wieder etwas, in seinem alten, aufgebrachten Tonfall, aber Nerin antwortete nur mit einem Kopfschütteln: »Nein. Sie ist nicht tot.« Sie lief zu ihrem Vater, und nach einem winzigen Zögern umarmte sie ihn und sagte etwas in ihrer Sprache. Ungläubig sah Halil ihr ins Gesicht, sah zu Shirin hinüber, sah Ella an, und dann, nach einem ebenso kurzen Zögern, nahm auch er Nerin in die Arme. Seine Augen schimmerten feucht. Mit einer Hand strich er ihr über den Kopf. Dann ließ er Nerin wieder los und zog die Sonnenbrille unter ihrem Kopftuch hervor, um die verfärbte Schwellung zu betrachten. »Amal?«, fragte er. Sie kniff

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