Nukleus
besaß. Die linke Wand bestand zur Gänze aus einer decken hohen Regalkonstruktion. Naturbelassene Kiefernbretter enthielten endlose Reihen von Büchern, Stapel von medizinischen und psychologischen Fachzeitschriften, dazu jede Menge CDs. Einem großen Flachbildfernseher in der Mitte dieser Wand entsprach ein offener Kamin an derselben Stelle in der gegenüberliegenden Wand, eingerahmt von den beiden französischen Fenstern.
Der Rest der Einrichtung war zu Inseln arrangiert, die sich in klei nen Archipele über den dunklen Parkettboden verteilten: drei Kleider stangen auf Rollen wie im Umkleideraum einer Prêt-à-Porter-Schau, eine Sitzgruppe aus zwei Niki-de-Saint-Phalle-bunten Sacksesseln und einer Couch, gestaltet im selben Lederflickendesign, ein paar Kom moden und Teewagen. Außerdem gab es einen wuchtigen Metallschreibtisch mit einer Schreibfläche, die an die Tragfläche eines Jagdflugzeugs erinnerte, und ein Doppelbett hinter einer spanischen Wand. Flache, bleigrau lackierte Heizkörper hingen wie große Schilde an der Rückwand zwischen einer extravagant geformten Badewanne aus Wal nussholz in der linken und einer ultramodernen Küchenzeile mit Esstresen und Barhockern in der rechten Ecke.
Diese Stille, dachte Ella; nichts tickte, summte oder surrte, kein Wasserhahn tropfte, von nirgendwoher drang ferne Musik, nicht einmal Straßenlärm.
Behutsam setzte sie Fuß um Fuß in den Raum; verwundert, weil nichts an der Einrichtung ihrer Erwartung entsprach. Wo waren die Pflanzen, von denen Annika erzählt hatte; die ihr als Tarnung dienen sollten? Das Gewächshaus, in dem sie therapierte? Eins ihrer Tiere war gestorben, die Katze oder der Hund, aber es fanden sich keinerlei Hinweise auf Tiere, lebend oder tot. Keine Körbe, kein Napf, kein Kissen, keine Haare. Und sah so die Armut aus, in der sie angeblich gelebt hatte, nachdem sie ihre Behandlungen nicht mehr mit Gesund heitsamt oder Krankenkassen abrechnen konnte? Allein die Badewanne musste ein Vermögen gekostet haben.
Neben dem Schreibtisch stand ein Anrufbeantworter auf dem Boden, doch das Display zeigte nur drei noch nicht abgehörte Anrufe. Das Betriebslämpchen an der Ladestation für das Telefon leuchtete. Etwas fehlte auf dem Schreibtisch, und es dauerte nur einen kurzen Moment, bis Ella wusste, was: Nirgendwo konnte sie einen Computer oder ein Notebook entdecken.
Was hast du erwartet, dachte sie; was hast du geglaubt? Sie trat an das Bücherregal, studierte die runzligen Rücken – Freud, Jung, Adler, natürlich, aber auch Rudolf Steiner, Oliver Sacks, Neil Postman und Marshall McLuhan. Viel klassische Musik bei den CDs: Bach, Haydn, Mozart, Dukas’ Zauberlehrling, Fausts Verdammnis von Gounod, die Symphonie fantastique von Berlioz.
Dann gab es noch eine Handvoll DVDs, die eine gelinde Überraschung darstellten, denn es handelte sich um Pornos mit Titeln wie Ali and the 40 Sluts oder Sir Francis Rape and the Sea of Cum. Allen gemeinsam war die Hauptdarstellerin, Candy Carbonara, eine sinnliche Schönheit – blond, große blaue Augen, makellose Lippen, makellose Brüste, makellose Schenkel und ein makelloser Hintern, und Ella dachte: Also hör mal, Anni! Wozu brauchst du solche Filme?
Sie ging weiter, blieb beim Schreibtisch stehen. Die Platte war viel zu leer, vor allem, wenn man Annis Vorstellung von Ordnung kannte. Das Bett – oval, eine grobgewebte Tagesdecke in Pastelltönen darübergeworfen – roch wenigstens nach ihr, besser: nach ihren bevorzugten Düften. Die Kochzeile wirkte unbenutzt, L’art pour l’art, genau wie die Ansammlung von exotischen Gewürzen, als wäre das alles nur da, um die Illusion eines geselligen, sinnenfrohen Menschen vorzugaukeln. Neben der Badewanne – poliert, keine Chance auf einen Schmutzrand –, hielt Ella unwillkürlich Ausschau nach Wasserflecken auf dem Tropenholzparkett.
Wenn ein Epileptiker ertrinkt, schwappt dann nichts über, zieht in den Boden ein während der Zeit, in der die Leiche nicht entdeckt wird?
Nichts. Was suchst du?, dachte Ella; Wasser oder Blut? Suchst du nach Spuren für Annis Tod oder dafür, dass sie noch lebt? Nicht für ihren Tod, auf keinen Fall dafür. Du willst, dass sie lebt und dir sagen kann, was das alles zu bedeuten hat. Du willst, dass sie lebt, weil sie deine beste Freundin ist und du sie liebst. Aber zwischen dem Moment, in dem sie den Brief an dich abgeschickt hat, und jetzt kann viel passiert sein. Alles kann passiert sein. Sogar wenn es tatsächlich ihre Stimme
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