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Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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die Lippen zusammen, mehr nicht, aber es war Antwort genug.
    Ellas Blick fiel auf den Monitor, der Shirins Temperatur anzeigte: 40,5 Grad. »Sehen Sie das?«, rief sie aufgeregt.
    »Was denn?«, fragte Nerin.
    »Die Temperatur. Sie ist gefallen.«
    »Vierzig Grad«, sagte Halil. »Genau wie vorher.«
    »Nein, vorher lag sie bei 40,7 Grad und jetzt bei 40,5.«
    »Der andere Arzt sagt, ihr Fieber ist mal so, mal so. Es steigt und sinkt und steigt wieder.«
    »Warten wir noch eine Weile, vielleicht fällt die Temperatur weiter!«
    Sie warteten eine Viertelstunde, und danach lag das Fieber bei 39,8 Grad, und Ella sagte: »Die Tendenz ist positiv«, und Mehlthau sagte, viel vorsichtiger, dasselbe. Ella versuchte, nicht erleichtert zu sein, denn noch immer war Shirin im septischen Schock. Von einem echten Durchbruch konnte man erst nach sechs oder acht Stunden re den, bloß dass Ella jetzt sicher war, dass sie sich nicht ge täuscht hatte , schon gar nicht, als der Monitor 39,6 Grad anzeigte, dann 39,4. Wenn die Tendenz anhielt, wenn der Kreislauf der Patientin anfing, sich zu stabilisieren, konnte man bald den Bedarf an Noradrenalin reduzieren.
    Aber damit habe ich nichts mehr zu tun, dachte Ella. Sie wollte nur noch nach Hause. Halil Abou-Khan und Nerin standen mit Dr. Mehlthau am Bett der Patientin. Niemand schien sie zu beachten. Ella schlüpfte ohne ein Wort zur Tür hinaus.
    »Warten Sie, Ärztin.« Shirins Vater stapfte eilig hinter ihr her. Während er auf sie zuging, rief er seiner Frau und Rashido etwas zu. Seine Frau riss die Arme hoch und stieß einen Seufzer aus, der ihren ganzen Körper erschütterte, und der Imam rief: »Allahu Akbar! Allahu Akbar!«
    Halil blieb vor Ella stehen und betrachtete sie. Er schien nach einem angemessenen Weg zu suchen, ihr seine Dankbarkeit zu beweisen.
    »Gibt es irgendeinen Wunsch, den ich Ihnen erfüllen kann? In Ihren – wie sagt man – wildesten Träumen?«
    »In meinen wildesten Träumen kommen Sie bestimmt nicht vor«, sagte Ella. Sie lächelte ihn müde an. Dann wandte sie sich ab, ging. Sie verließ die Station und das Gebäude und schritt unter den Kastanien zum Ausgang am Ende der Allee.

2 9
    Die ganze Zeit auf dem Weg nach Hause, in der Nacht und am nächsten Morgen und sogar noch nach der Landung in London Heathrow musste Ella immer wieder an den Clip denken, den sie auf YouTube gesehen hatte. Die Aufnahmen der Handykamera waren erstaunlich gut gewesen, obwohl der Mann, der das Handy gehalten hatte, gerade dabei war, sich selbst in die Luft zu sprengen. Man konnte das gelbe Leuchten am unteren Bildrand sehen, aber keine Stichflamme. Ein paar dunkle Partikelchen flogen aus dem aufsteigenden Rauch in die Tiefe des U-Bahn-Waggons, der schwach hin und her ruckelte. Die Passagiere auf den Bänken starrten wie gelähmt in die Kamera, einige mit verzerrten Gesichtern – aufgerissene Münder, zusammengekniffene Augen –, andere fast staunend, aber alle wie geblendet von dem schwelenden Leuchten.
    Im Vordergrund kauerte ein junger Araber auf den Knien, dann kippte er zur Seite und blieb zuckend auf dem Waggonboden liegen, blutüberströmt. Dahinter sah man drei Mädchen in dünnen Sommerkleidern, noch weiter hinten einen Bahnpolizisten in blauer Uniform. Ein paar Männer mit Aktentaschen und Laptops, Jungen mit Handys. Ein Punker, der etwas Weißes auf der schwarzen Lederschulter trug. Und ganz hinten zwei Nonnen und ein kleines Mädchen auf Rollerblades.
    Shirin.
    Die Handykamera schwenkte kurz weg, verlor die Bänke aus dem Focus, streifte über die buntbeklebten Fenster, die Decke. Dann richtete sie sich wieder auf die Passagiere, die jetzt mit roten Punkten übersät waren, die Hände vors Gesicht oder die Brust geschlagen hatten, zusammenkrümmt. Körper, die sich auf dem Boden wälzten, der Punker, der Bahnpolizist, die Nonnen.
    Ein Mann an der mittleren Tür drehte sich wie ein Kreisel um die eigene Achse, ohne jede Orientierung, und dann wurde er von einem fast sichtbaren Luftstoß umgefegt. Die Sehnen an seinem Hals traten hervor, spreizten die Haut zu einem Fächer, während er sich auf dem Boden weiterdrehte, in unheimlichen, scharrenden Breakdance Kreisen.
    Plötzlich sprangen alle auf, eine Frau schrie etwas, das im Rattern der Waggonräder unterging, es klang wie: »Hilfe!«, »Eine Bombe! Hilfe …!« Mühsam kam der Uniformierte wieder hoch und drückte auf einen Knopf in der Wand neben einer Tür, bevor er nach der Pistole an seinem Gürtel griff. Neben

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