Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nukleus

Nukleus

Titel: Nukleus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
Vom Netzwerk:
er dich für naiv und ungeschickt: eine deutsche Frau, die in einer fremden Stadt die Leiche ihrer toten Freundin sehen will.
    Ich habe viel gelernt seit letztem Jahr, dachte Ella; wie man täuscht und lügt und betrügt, das alles habe ich gelernt. Nichts worauf man stolz sein könnte. Aber nur deswegen lebe ich noch.
    Es war kühl geworden; die Sonne erreichte nicht mehr den Bürgersteig, nur die Wipfel der Bäume und die Giebel der Häuser leuchteten noch herbstrot unter dem blassen Himmel. Auch die altmodischen Straßenlampen aus Schmiedeeisen ragten über die Schattengrenze in den Sonnenschein. Genauso wie die Kamera, die an der Fassade eines Eckhauses befestigt und auf den Platz gerichtet war. Das Objektiv blendete, warf einen hellen Reflex auf den Asphalt. Ella fühlte sich plötzlich beobachtet und ging schneller, aber als sie das Haus erreicht hatte und nicht mehr im Sichtfeld der Kamera war, bemerkte sie eine Straße weiter an einer Kreuzung die nächste.
    Schon auf der Fahrt mit dem Expresszug von Heathrow in die Stadt hinein war ihr ein Hinweisschild mit der Beschriftung CCTV – Closed Circuit Television über der Tür gegenüber von ihrem Sitz aufgefallen. Allerdings hatte sie keine Kamera entdeckt, jedenfalls keine, die so aussah wie die an der Decke der Flughafenhallen, an die sie sich jetzt erst wieder erinnerte. Im Menschengewirr an der Pass- und Einreisekontrolle, auf der Suche nach dem Bahnsteig für den Expresszug und als sie an einem Geldautomaten gegenüber von den Gepäckbändern 150 Pfund gezogen hatte, war sie zu aufgeregt gewesen, um auf irgendetwas anderes zu achten als auf die vielen Schilder, nach denen man sich in den weitläufigen Hallen orientieren musste.
    Im Flugzeug hatte sie am Fenster gesessen, von wo aus sie sehen konnte, wie der Schatten der Maschine auf der Insel über sechsspurige Autobahnen, grüne Wiesen und das bleisilberne Wasser der Themse huschte. Allmählich war die Maschine in den Sinkflug übergegangen, und von unten schwebte ihr die Tower Bridge entgegen, weit überragt von einem scherbenspitz zulaufenden Wolkenkratzer, und dann ein Riesenrad am Flussufer und Big Ben mit dem Parlament und weiter hinten eine blendende Ansammlung stählerner Wolkenkratzer, in deren Mitte ein großes Fabergé-Ei grüngolden in der Sonne glitzerte. Nach der Warteschleife war London wieder zurück geblieben, dann auch Windsor Castle, und schließlich säumten weitläufige Vororte, Bahngleise und riesige Parkplätze die Einflugschneise, an deren Ende die Flughafenanlage von Heathrow in den dunstigen Himmel aufragte.
    Die Morgensonne hatte Ellas Schläfe und Ohr gestreift wie eine warme Flamme, dann war ein Ruck durch die Maschine gegangen, als die Räder die Rollbahn berührten, ehe der Umkehrschub sie in den Sicherheitsgurt gepresst hatte. Die Wartezeit, bis sie das Flugzeug verlassen konnten, war ihr endlos vorgekommen, genauso wie die Schlange vor den kleinen Kabinen, an denen sie ihren Pass vorzeigen musste. Erst in dem schnell der City entgegenrasenden Zug hatte ihre Anspannung etwas nachgelassen. Hinter den getönten Scheiben flitzten Häuser und Fabrikanlagen vorbei, ein Wäldchen, Äcker und Wiesen, mehrere Schnellstraßen und die überall gleichen Gewerbegebiete, dann die zahlreichen kleinen Bahnstationen, an denen der Express nicht hielt.
    Wohnten hier irgendwo vielleicht die Freunde, von denen Anni in einem Absatz ihres Briefes geschrieben hatte?
    Aber zurück zu Patrick. Ich glaube, er wird versuchen, mich zu töten. Deswegen gehe ich morgen zu Freunden, bei denen mich keiner findet, weil niemand weiß, dass es Freunde von mir sind. Sie wissen es nicht einmal selbst.
    Für den Weg zurück zu ihrem Hotel nahm sie den Doppeldeckerbus bis zur Paddington Station. Die Fahrt dauerte nur eine Viertelstunde, trotzdem reichte die Zeit, um nach Anrufen (keine) und E-Mails (keine) zu schauen und ihrer LifeBook-Seite einen Besuch abzustat ten. Die Academy of Solace schlug Ella neue Freunde vor. Neben einem Mann namens Alexander Meyer aus Berlin gehörte auch ein Oskar Scharnhorst dazu, und sie brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, dass es sich um den toten Militärseelsorger handelte. Computer!, dachte sie.
    An der Paddington Station stieg sie aus und ging den Rest des We ges zu Fuß. Ein Wald bunter Schilder wuchs aus den engen, löcherigen Gehwegen – gelb, grün, rot –, und die Autos fuhren gemächlich auf der falschen Straßenseite. Ein scharfer Wind fegte um die Ecken der

Weitere Kostenlose Bücher