Nukleus
niedrigen Backsteinhäuser. Die Luft war kühl, aber der Abend noch hell. Kleine Läden und handtuchbreite Pubs wechselten sich mit indischen, chinesischen oder thailändischen Restaurants ab. Bretterverschläge vor zersprungenen Schaufenstern kündeten von Opfern der Rezession oder den letzten Facebook-Krawallen, und wo sich die Hauptstraße in Richtung Eastbourne Terrace davonmachte, wucherten Zierbüsche über Eisenzäune und Platanen versilberten den Smog an den Ampeln mit ihren flirrenden Blättern.
Sie umklammerte mit beiden Händen ihre Umhängetasche und pflügte durch die Passantenströme. Erst zehn Minuten nach rechts, danach noch einmal sechs in Richtung Hyde Park links, und schließlich eine breite, kaum befahrene Seitenstraße bis zum Lancaster Gate Hotel. Über dem Eingang des mit frischem Weiß getünchten Gebäudes flatterte der Union Jack. Schlanke Säulen flankierten die automatische Glastür. Rechts und links erstreckten sich weitere billige Pensionen und Herbergen, Zeilen von Reihenhäusern mit renovierten Fassaden, die das schäbige Innere maskierten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite rankten sich Baugerüste um leere Fensterhöhlen an mehrstöckigen Außenmauern hoch, es wurde gehämmert und gebohrt. Plastikplanen flappten im Wind. Über die Dächer flutete der Verkehrslärm von Bayswater heran, Gehupe, laute Musik, betrunkene Touristen.
Jetzt betrat Ella zum zweiten Mal an diesem Tag die Lobby des Hotels, aber diesmal war sie vorbereitet: auf das abgenutzte Mobiliar, die fast farblos getretene Auslegware vor dem Empfangstresen, die plötzlichen Stufen mitten im Raum und den indischen Portier, der sie mit derselben Gleichgültigkeit empfing wie zuvor. Er händigte ihr den an einem Messingbarren baumelnden Zimmerschlüssel aus, ohne ihr auch nur ins Gesicht zu sehen. Sie fuhr mit dem Lift in den dritten Stock hinauf.
Eine gedämpfte mechanische Stimme sagte: »Floor three«, so wie sie »Floor two« und »Floor one« gesagt hatte, als gehöre sie einer kleinen Frau, die in der Fahrstuhlwand gefangen gehalten wurde und bis an ihr Lebensende die Etagen ansagen musste. Ella ging über den gewellten, fleckigen Teppichboden zu ihrem winzigen Zimmer. Aber auf das, was sie sah, als sie das Zimmer betrat, war sie nicht vorbereitet. Für einen kurzen Moment dachte sie, sie hätte sich womöglich in ihrem Zimmer geirrt. Das Bett war nicht gemacht, die Tagesdecke aus dunkelrotem Nylon zurückgeschlagen, das Licht brannte. Die mit bonbonbuntem Wachspapier ausgelegte Schublade des Puppenschreibtischs stand offen. Der hinter Glas gerahmte Stadtplan von London an der Wand hing schief. Die Vorhänge waren zugezogen.
Aber dies war ihr Zimmer: Das war ihre Kleidung, die auf dem Boden verteilt herumlag. Und das waren ihre Hygiene- und Schminkutensilien, die jemand von dem schmalen gläsernen Regalbrett gefegt hatte.
Ella kämpfte einen Moment mit Panik. Sie trat zur Tür, überprüfte, dass sie geschlossen war. Dann öffnete sie die Vorhänge, ließ die Lampen aber an. Sie packte Blusen, Unterwäsche, Pullover und Schuhe wieder in den Koffer, räumte die Ablage im Bad auf, schloss die Schublade und rückte die Matratze zurecht. Dann setzte sie sich auf das Bett und dachte auf einmal: Nicht das Zimmermädchen. Es war nicht das Zimmermädchen.
Jemand andere r, dachte sie weiter. Irgendwer hatte ihr Zimmer durchsucht. Aber wer? Patrick Cassidy? Konnte sonst noch jemand Interesse an ihr haben? Vielleicht war es nur ein verrückter Zufall? Vielleicht war es bloß ein Hoteldieb, der ohne Beute wieder abgezogen war. Sie ging zum Schreibtisch, um in der Lobby anzurufen, und stellte fest, dass ihr Zimmer kein Telefon hatte. Sie holte ihr Handy aus der Tasche und suchte die Nummer des Hotels, die sie extra gespeichert hatte, für alle Fälle. Nach drei Freizeichen meldete sich der Portier mit seinem weichen indischen Akzent: »Lancaster Gate Hotel.«
»Ella Bach, Zimmer 343«, sagte Ella. »Hat jemand nach mir gefragt während meiner Abwesenheit?«
»Nein, Madam. Niemand.«
»War jemand in meinem Zimmer? Der Room Service? Hat jemand den Schlüssel verlangt?«
»Selbstverständlich nicht«, sagte der Portier mit genau dem Zuviel an Empörung, das die Lüge verriet.
»Danke. Entschuldigen Sie die Störung.« Ella trat ans Fenster. Auf dem Baugerüst gegenüber konnte sie Männer sehen, die auch abends beim Schein starker Lampen arbeiteten. Sie überlegte, ob sie das Zimmer verlassen und in ein anderes Hotel
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