Nukleus
doch jetzt stellte sie fest, dass die Reihenfolge der Seiten nicht mehr stimmte. Jemand hatte den Brief herausgenommen und gelesen oder fotokopiert. War das der Grund für die Unordnung im Zimmer gewesen? Hatten sie danach gesucht?
… weißt du, so viel ist mir damals durch den Kopf gegangen, als ich mich bereit erklärt hatte, an der Entwicklung eines neuen Netzwerks mitzuarbeiten, den Programmierern sozusagen mit dem Besteck des Psychologen zur Seite zu stehen. Im Grunde ist ja die Begeisterung für soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter, Google+ oder LifeBook nichts anderes als der tiefe Wunsch, wieder zu einem Stamm zu gehören, das Bedürfnis nach der Geborgenheit des Clans – und damit die unverhohlene Sehnsucht nach einer Rückkehr in die Primitivität. O Herr, nimm diese entsetzliche Bürde, für mich selbst zu denken, von mir! Gewähre mir Heilung von dem Fluch, mich aus eigener Kraft entwickeln zu müssen!
In Wirklichkeit schalten wir uns als soziale Wesen nach Belieben ein oder wieder aus, füttern uns gegenseitig mit Banalitäten und leben nur zwischen zwei Klicks noch als Teil einer Gemeinschaft, zu der jeder Kontakt willkürlich unterbrochen werden kann, wenn wir von den anderen genug haben.
Das ist natürlich kindisch. Verantwortungslos. Wie unreife Jugendliche wollen wir unser Glück und Unglück zu einem kollektiven Projekt ma chen. Kein privates, persönliches Leben mehr, sondern ein Verschmelzen mit der Gruppe, dokumentiert in Fotos, Filmen, Tweets. Wer gemeinsam leidet, liebt und hasst, braucht keine Scham mehr zu fürchten.
Wo die Scham aufhört, beginnt da das Chaos? Ach was, Freud war gestern. Wir lösen uns auf, nehmen an uns selbst nur als einer Person von vielen teil. In letzter Konsequenz werden wir wieder zum Nichts. Das Nichts hat heutzutage viele Namen, unter denen es uns angepriesen wird, als wäre es das ewige Leben – was es in gewisser Weise ja auch ist, wenigstens in der Parallelwelt, die uns das Internet bietet. Und das Nichts ist, natürlich, das Habitat des Teufels.
Entschuldige, das klingt vielleicht zu zynisch. Aber es regt mich auf, wie die sogenannten Social Media ein tiefes und legitimes menschliches Bedürfnis in einen kommerziellen Jahrmarkt verwandelt haben, um sich mit dem Schmerz, den es bedeutet, ein Mensch zu sein, die Taschen zu füllen.
Der Begriff, der dabei am meisten missbraucht wird, ist der der Freiheit. Dabei stimmt es, das Netz und die Netzwerke, haben uns eine völlig neue Form von Freiheit beschert. Das Problem ist nur, dass diese Freiheit keinen Inhalt hat, und Freiheit ohne Inhalt ist nichts wert, ist nur das Fehlen von Verantwortung. Ist Leere. Verantwortung anzunehmen ist Freiheit. Daran habe ich gearbeitet.
Als wir LifeBook konzipiert haben, sollte es ein Gegenentwurf werden, echte Linderung bringen, selbst wenn Heilung nicht möglich schien. Einem leer gewordenen Leben wieder Sinn geben. Stattdessen ist meine Arbeit pervertiert worden – Menschen werden tiefer verletzt, werden gebrochen, werden zu Mördern gemacht, und ich bin jedes Mal Mittäter.
Gott ist tot, mag sein. Aber jetzt ist der Tod Gott.
Ella ließ das Blatt sinken. Sie war nicht sicher, ob sie verstand, worauf Annika hinauswollte. Auf dem Rückweg ins Hotel hatte sie vom oberen Stockwerk des Busses aus den Hyde Park gesehen und für einen kurzen Moment das Gefühl gehabt, dass alles gut werden würde. Sie hatte die überall aufgehängten Plastikfähnchen mit dem rot-weiß-blauen Union Jack im Wind flattern gesehen, die Menschen auf den Gehwegen, die Jogger und Hunde auf den Rasenflächen und am Ufer eines kleinen Sees und gedacht: Ich werde Anni finden, und dann wird alles gut. Aber eine halbe Stunde später hatte sie ihr Zimmer durchwühlt vorgefunden, und jetzt sah es gar nicht danach aus, dass irgendetwas gut werden könnte.
Eine erfolgreiche Therapie – manchmal sogar nur ein kleiner Fortschritt bei einer schwierigen Behandlung – ist immer wieder ein Wunder. Zu sehen, wie sich die ganze Persönlichkeit verändert, das ist, als ob man eine Kerze in einem dunklen Zimmer angezündet hätte und in ihrem erst nur flackernden Schein Zeuge würde, wie sich ein Werwolf wieder in einen Menschen verwandelt.
Weiter vorn habe ich dir ja von meinem Taubenschlag erzählt. Ich habe ihn schließlich, na ja, nicht zugemacht, aber sehr verkleinert. Ich habe nach einem Weg gesucht, wie ich allen helfen konnte – und das war, glaube ich, der Moment, in dem ich dachte, ich könnte Gott
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