Null
dass das nicht in Frage kam. Ihr Kopf war immer noch mit seinen Markierungen überzogen. Und wenn sie starb, kam es zu einer Obduktion. Dann flog alles auf.
Der Rechtsmediziner würde die Chemikalien in ihrem Blut entdecken. Man musste kein Genie sein, um sich zu denken, dass Tversky dahinter steckte. Durch den Anruf würde er sich nur verdächtig machen. Am liebsten wäre er auf der Stelle aus dem Labor gerannt, aber da war der Wachmann. Er würde sich daran erinnern, dass Tversky erst spätabends gegangen war.
O Gott. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Er war doch immer so vorsichtig gewesen – warum hatte er sich keinen Ausweichplan zurechtgelegt? Er starrte Julia mithasserfülltem Blick an. Die dumme Fotze starb hier in seinem Labor und machte damit alles zunichte.
Einundzwanzig Minuten.
Tversky fuhr sich mit schweißnassen Händen durchs Haar und ging im Raum auf und ab. Aus dieser Sache kam er nicht mehr raus. Er war geliefert. Am Vorabend der wichtigsten wissenschaftlichen Entdeckung aller Zeiten wanderte er in den Knast.
Zwanzig Minuten.
Die Zeit verging viel zu schnell. Er brauchte einen Ausweg. Er brauchte … ein Fenster. Er rannte zum Fenster und schob es hoch. Es knarrte und widersetzte sich, ließ sich aber öffnen. Sich am Fensterrahmen festhaltend, lehnte er sich hinaus und spähte hinab in die Gasse sechs Etagen unter ihm. Das konnte funktionieren. Wenn er klug vorging und nicht in Panik geriet, konnte er das hinbekommen.
Er eilte zum Waschbecken und schüttete sich ein starkes Reinigungsmittel in die hohle Hand. Er musste die Markierungen auf ihrem Kopf abwaschen. Während er ihre Kopfhaut wusch, ging er in Gedanken durch, was er noch alles erledigen musste …
Achtzehn Minuten.
… ehe die Putzkolonne kam. Wenn sie sauber war und er das Erbrochene vom Boden aufgewischt hatte, musste er die Daten verstecken: Die Videoaufzeichnungen, die EE G-Messungen , seine Notizen – das musste alles kopiert und dann vernichtet werden. Endlich wieder einigermaßen ruhig atmend, trat Tversky einen Schritt zurück, um sein Werk zu begutachten. Die Markierungen waren nicht mehr zu erkennen. Gegen die kleinen roten Schwielen konnte er leider nichts unternehmen. Vielleicht würde man die wunden Stellen übersehen, wennsie sich beim Sturz den Schädel brach. Er konnte es nur hoffen.
Er warf sie sich über die Schulter und trug sie quer durch den Raum. Er lehnte sie an den Fensterrahmen, da hörte er es: ein lang gezogenes, leises Stöhnen. Er starrte ihr ins Gesicht, suchte nach einem Anzeichen dafür, dass sie wieder zu sich kam, sah aber nur ihre schlaffen Kiefer.
Neun Minuten.
Einen Moment lang erstarrte er. Ihm war klar, dass es kein Zurück mehr gab, wenn er das jetzt tat. Und dann stöhnte sie wieder. Es war ein leises, entsetzliches Geräusch. Tversky hätte es nicht für möglich gehalten, dass irgendein Laut so traurig klingen konnte. Es hörte sich an wie das Wimmern eines sterbenden Tiers.
Acht Minuten.
Er ertrug es nicht. Er würde wahnsinnig werden, wenn er sich diesen Laut noch länger anhören musste. Mit aller Kraft wuchtete er den Körper aus dem Fenster. Einen Augenblick später hörte er einen lauten, klatschenden Aufprall. Dann war wieder alles still. Tversky seufzte erleichtert.
Das Labor aufzuräumen und die Daten auf CD zu brennen würde nur ein paar Minuten dauern. Er würde hier raus sein, ehe die Putzkolonne kam, und eine halbe Stunde später bereits zu Hause. Er konnte es gar nicht erwarten, sich das Video anzusehen. Sie hatte so viel gesagt, dass er gar nicht alles verstanden hatte, aber eines hörte er immer wieder im Geiste.
«Töte ihn», hatte Julia geflüstert. «Töte David Caine.»
Teil 2 //Fehlerminimierung //
Da wir so viele Geheimnisse ergründen, glauben wir nicht mehr an das Unergründbare.
Dennoch sitzt es da und leckt sich ganz ruhig die Lippen.
Henry Louis Mencken, Autor
Manchmal habe ich schon vor dem Frühstück sechs unmögliche Dinge geglaubt.
Die weiße Königin, Herrscherin des Wunderlands
Kapitel // 13 //
Nava rannte über die Straße, als sie den Aufprall hörte. Es war zu dunkel, um zu sehen, was da herabgestürzt war, aber sie hatte den grässlichen Verdacht, dass es ein Mensch gewesen war. Als Nava die Gasse betrat, schlug ihr der Gestank von verwesendem Fleisch entgegen. Sie hielt sich die Nase zu, ging an den aufgerissenen Müllsäcken rund um die Müllbehälter vorbei und achtete dabei nicht auf die scharrenden und
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