Null
rief Caines Akte auf, und mit einem Mal war alles klar: ein Zwillingsbruder. Nava überlegte krampfhaft, wie sie diese unerwartete Information für sich nutzen konnte. Sie bezweifelte, dass Grimes die Akte so genau gelesen hatte, dass er wusste, dass Caine einen Zwillingsbruder hatte. Lag sie damit falsch, würde ihre List schnell auffliegen. Hatte sie aber Recht damit …
Sie musste sich entscheiden: warten und womöglich die Initiative aus der Hand geben oder zuschlagen und damit Enttarnung riskieren. In solchen Situationen hatte sie sich stets auf ihren Instinkt verlassen. Wie sie es sah, konnten sämtliche Optionen nach hinten losgehen; es kam darauf an, die Risiken zu analysieren und zu minimieren. Ganz ausschließen ließen sie sich nicht.
Nava beschloss, dass sie handeln musste.
Sie war zwar nicht befugt, die Stammdatei der NSA zu bearbeiten, wusste aber, wie sie es dennoch hinbekommen konnte. Einige Monate zuvor hatte sie einen Systemadministratorder Sozialversicherung durch Bestechung dazu gebracht, ihr ein Benutzerkonto und Kennwort einzurichten, damit sie Decknamen erzeugen konnte. Dieses illegal erworbene Kennwort hatte sie zwar seit fast sechs Wochen nicht mehr verwendet, aber eigentlich musste es immer noch gültig sein.
Sie griff auf die Datenbank der Sozialversicherung zu und drückte auf «Enter». Der Bildschirm wurde schwarz. Einen Moment lang glaubte Nava, das System sei gesäubert und ihr Kennwort gelöscht worden. Sie stellte sich vor, wie ein lautloser Alarm ausgelöst wurde, Sicherheitstüren ins Schloss fielen und bewaffnete Männer angerannt kamen. Doch stattdessen empfing sie ein Menü.
Sie drückte F10, um die Stammdatei der Sozialversicherung zu bearbeiten. Es dauerte nur fünf Minuten. Anschließend kehrte sie zur NS A-Datenbank zurück, wählte Caines Datei aus und befahl dem Server, seine Daten zu aktualisieren. Auf dem Bildschirm erschien die Meldung «Vorgang wird bearbeitet», und der Server griff auf die Quelldatenbanken zu, aus denen sich seine Dateien speisten. Eine halbe Minute später erschien ein neues Fenster.
Bis auf ein Feld waren alle Daten unverändert. Sie hatte es geschafft. Wenn Grimes auf eine Backup-Fassung zugriff, konnte er sehen, was sie getan hatte, aber das spielte keine Rolle. Wenn es so weit kam, hatte sie bereits den Vorsprung, den sie brauchte. Sie verließ das Büro und ging zum zweiten Mal in dieser Nacht zu David Caines Wohnung.
Sie wusste, dass es so oder so das letzte Mal sein würde.
James Forsythe war außer sich vor Wut.
Er tobte. Er machte nur deshalb nicht an Ort und Stelle kurzen Prozess mit Grimes, weil er ihn noch brauchte.Forsythe zwang sich, die Augen zu schließen, bis er seine Gefühle wieder im Zaum hatte. Er konzentrierte sich auf seine Atmung. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.
«Alles in Ordnung mit Ihnen, Dr. Jimmy?», fragte Grimes und zupfte sich unwillkürlich am Ohr.
«Dr. Forsythe. FOR-SYTHE», sagte Forsythe mit zusammengebissenen Zähnen und schlug die Augen auf.
«Sie wissen doch, dass ich das nur im Scherz sage.» Grimes lächelte. «Schaun Sie, es tut mir Leid, dass ich Sie heute Nacht nicht geweckt habe, aber ich wusste ja nicht …»
«Sie wussten nicht, dass ich Bescheid bekommen will, wenn der Wissenschaftler, den wir beobachten,
verschwindet
?»
«Streng genommen ist er nicht verschwunden – sie konnten ihn bloß noch nicht finden, seit sie angefangen haben, ihn zu suchen.»
«Aber sie haben
vor drei Stunden
angefangen, ihn zu suchen. Und das
während Ihrer Wache
.»
Grimes scharrte mit den Füßen. «Schaun Sie, ich weiß nicht, was ich dazu noch sagen soll. Was passiert ist, ist passiert.»
Forsythe wollte gerade etwas erwidern, da wurde ihm klar, dass der Idiot Recht hatte. Seine Rache an Grimes konnte er sich für später aufheben.
«Also gut», sagte er und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. «Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen. Von Anfang an.»
Grimes aktivierte seinen PDA und begann vorzulesen. «Laut Polizeibericht starb die Studentin Julia Pearlman zwischen elf und zwölf Uhr heute Nacht. Sie fiel offenbar aus einem Fenster im sechsten Stock. Gegen zwei Uhrfand sie ein Obdachloser nackt in einem Müllbehälter. Die Rechtsmedizin hat die Todesursache noch nicht endgültig festgestellt, vorläufig spricht man von Genickbruch. Die Sache wird bisher als Selbstmord eingeschätzt. Ein Mord ist aber noch nicht ausgeschlossen worden.»
«Und sie glauben, Tversky könnte
Weitere Kostenlose Bücher