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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Zeh
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»Einer Frau wie Jola würde es guttun, ein Kind zu bekommen. Denk mal an Luisa. Oder Valentina. Wie nervös die immer waren. Und wie ruhig sie durch ihre Kinder geworden sind.«
    Antje verfügte über eine große Anzahl spanischer Freundinnen, die sie um ihre blonden Haare beneideten und die allesamt entweder Kinder hatten oder Kinder erwarteten oder beides. Es ärgerte mich maßlos, dass Antje keine Gelegenheit ausließ, mir durch die Blume ihren eigenen Kinderwunsch zu präsentieren.
    »Meinst du nicht, dass ihr ein Kind gut stehen würde?«
    Ich sagte: »Du weißt genau, dass ich keine Kinder will. Also hör auf mit dem Scheiß.«
    Jetzt senkte Antje den Kopf. Ich ließ sie neben der Spülmaschine stehen und ging ins Bett. Dort verhinderte ein ungutes Gefühl, dass ich einschlief. Als Antje leise ins Bett gekrochen kam, kniff ich die Augen zu und drehte mich zur Wand.

4
    D as Meer war leise; die Luft unbewegt und für acht Uhr morgens ungewöhnlich warm. Die Windstille beunruhigte mich. Wer so schwieg, führte etwas im Schilde.
    Ich sah die beiden von der Dachterrasse aus, wo ich meine Sandalen und zwei Handtücher einsammelte. Sie standen vor der Casa Raya und warteten auf mich. Theo streckte eine Hand nach Jola aus. Mit zwei Fingern fasste er die weiche Haut an der Unterseite ihres Oberarms. Als sich Jola entziehen wollte, kniff er fester zu; ich sah den Schmerz auf ihrem Gesicht. Er hielt die Hautfalte fest, streichelte mit der anderen Hand Jolas Wange und redete auf sie ein. Ich hörte seine Stimme, verstand aber nicht, was er sagte.
    Einmal hatte ich Antje dabei überrascht, wie sie mit erhobenem Arm vor dem Badezimmerspiegel stand und missmutig ihren Trizeps begutachtete: Problemzone.
    Theo gab Jolas Arm frei und griff ihr stattdessen ins Fleisch oberhalb des Hüftknochens, wo sich bei allen Frauen, die nicht magersüchtig waren, ein kleines Fettpolster befand. Er drückte zweimal zu und ließ von ihr ab, um sich eine Zigarette anzuzünden.
    Im Auto fragte ich, was Nullzeit sei. Jola antwortete, Nullzeit sei die Anzahl von Minuten, die man unter Wasser verbringen dürfe. Theo ergänzte, es habe etwas mit Stickstoff zu tun.
    Wie immer vor dem ersten Tauchgang hatte mich Antje beim Frühstück über den Erfahrungsstand der neuen Kunden aufgeklärt. Theo und Jola hatten vor Jahren im Lauf einer Vietnamreise einen Kurs absolviert und den »Open Water Diver« erworben – und das war’s. Ihre Logbücher dokumentierten nicht mehr als zehn Tauchgänge. Da konnte ein bisschen Theorie nicht schaden. Im Grunde war Tauchen kein gefährlicher Sport, sofern man ein paar Regeln verinnerlichte. Die meisten Anfänger lernten für die Prüfung zum Tauchschein ein paar Sätze und Formeln auswendig und vergaßen sie gleich wieder. Vielleicht konnten sie zitieren, dass Nullzeit die Zeitspanne war, die ein Mensch in einer bestimmten Tiefe tauchen konnte, ohne sich bei der sofortigen Rückkehr an die Oberfläche einem Gesundheitsrisiko auszusetzen. Aber nur wenige waren in der Lage, sich darunter etwas vorzustellen. Vor allem wollten die meisten nicht wahrhaben, dass von der Berechnung der Nullzeit tatsächlich ihr Leben abhängen konnte. Ich hielt mir etwas darauf zugute, an dieser Stelle ein gewissenhafter Lehrer zu sein.
    Während wir in Richtung Puerto del Carmen fuhren, begann ich mit meiner Standarderklärung. Der hohe Druck unter Wasser führe dazu, dass sich Stickstoff im Körper einlagere, im Blut, im Gewebe und in den Knochen. Man könne es sich ähnlich vorstellen wie bei Kohlensäure in einer Sprudelflasche: Solange die Flasche geschlossen bleibe und unter Druck stehe – kein Problem. Was aber passiert, wenn man die Flasche zu schnell öffnet? Ähnliches geschehe im Körper, wenn man die Nullzeit überschreite und zu schnell an die Oberfläche zurückkehre. Nicht schön.
    Plötzlich schrie Jola: »Halt an!«
    Heftig trat ich auf die Bremse. Jola hatte sich halb auf dem Beifahrersitz erhoben.
    »Hast du gesehen, was auf der Straße stand?«
    Weit aus dem offenen Fenster gelehnt, sah ich zurück.
    »Da stand niemand!«, rief ich.
    »Alles ist Wille«, sagte Jola. »In großen Buchstaben, quer über den Asphalt gesprüht.«
    Ich atmete aus, legte die Hände aufs Lenkrad, konzentrierte mich darauf, die Schultern sinken zu lassen.
    »Bist du wahnsinnig, mich so zu erschrecken?«
    Ein Auto überholte uns hupend.
    »Eine Botschaft«, sagte Jola. »An mich. Ausgerechnet auf deutsch!«
    »Klingt nach einer sehr deutschen

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