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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Zeh
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Sie Montesquieu!«
    Vor meinem geistigem Auge erschien eine verschwommene Reihe Buchstaben: Q, ein paar Mal U, mehrere E. Ich legte los. Das »Montes« kam mühelos heraus, darauf folgte ein »qu«, und danach lag alles in Gottes Hand.
    »Montes-q-u-e-u-e«, sagte ich.
    Brunsberg hieb vor Vergnügen die flache Hand auf den Tisch.
    »Queue wie beim Billard, ja, Herr Fiedler? Ist es das, was Sie in den vergangenen Jahren gemacht haben? Billard spielen?«
    Mir wurde klar, dass er keine Ruhe geben würde. Er wollte mich fertigmachen.
    »Zweiter Versuch, Herr Fiedler. Wir sind ja keine Unmenschen.«
    Unter dem Jackett klebte mir das Hemd am Rücken. Eine Stelle am Hintern juckte so unerträglich, dass mein Verstand aussetzte. Ich produzierte einen Buchstabensalat, der mit »Montesquieu« nicht mehr viel zu tun hatte. Brunsbergs Laune verfinsterte sich schlagartig. Seine Kollegen schauten gelangweilt aus dem Fenster. Draußen stritten ein paar Spatzen um die besten Plätze auf dem Sims.
    »Gut, Herr Fiedler, oder vielmehr nicht gut. Die Frage hat einen zweiten Teil. Fünfzig Prozent möchten Sie in diesem Examen doch sicher bringen, nicht wahr? Dann nennen Sie mir doch schnell den Vornamen des heiligen Vaters der Staatsrechtslehre.«
    Ich ließ mir Zeit. Ich hatte Prüfungsschemata für vierzehn verschiedene Klageformen auswendig gelernt. Ich kannte das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Während das Zanken der Spatzen lauter wurde, wunderte ich mich darüber, dass auch Voltaire genau wie Montesquieu keinen Vornamen zu besitzen schien. Bei Thomas Hobbes und John Locke gehörten die Vornamen ganz selbstverständlich dazu.
    Ich fühlte mich ruhig, als ich laut und deutlich »Friedrich« sagte. Das war der Vorname von Brunsberg. Der Rest der Prüfung versank im Nebel.
    Als wir zwei Stunden später zurück in den Raum gerufen wurden, um unsere Ergebnisse entgegenzunehmen, war ich ein anderer Mensch geworden. Ich verstand mich selbst nicht mehr. Hatte ich wirklich viertausend Mark für Repetitorien ausgegeben, täglich acht Stunden in der Bibliothek verbracht und jede Woche eine sechsstündige Probeklausur geschrieben, nur um in den Club der Arschlöcher aufgenommen zu werden? Die Vorstellung, den Rest meines Lebens einem Betrieb anzugehören, in dem Leute wie Brunsberg das Sagen hatten, bereitete mir Brechreiz.
    Vielleicht wäre das Leben trotzdem einfach weitergegangen, wenn sie mir für die miserable Prüfung einen halben Punkt von der Gesamtnote abgezogen hätten. Ich hätte mich geärgert, es im zweiten Staatsexamen besser gemacht und einen anständigen Job in einer Kanzlei bekommen. Aber ich hatte mich leicht verbessert. Ausgerechnet Brunsberg hatte mir fast die volle Punktzahl gegeben. Als er mir die Hand drückte, fletschte er die Zähne vor Freude.
    »Sie sind ein guter Jurist, Herr Fiedler«, sagte er. »Wenn Sie sich ein wenig mit den philosophischen Hintergründen der Jurisprudenz befassen, werden Sie ein noch besserer.«
    Die Tatsache, dass er es wahrscheinlich auch noch gut meinte, schaltete in meinem Kopf die Innenbeleuchtung an. Alles in mir strahlte vor Erkenntnis. Meine Freunde umringten mich, um mir zu gratulieren. Der andere Kandidat war durchgefallen, stand allein am Fenster und heulte. Ich hörte nicht mehr, was gesprochen wurde. Im Geist hatte ich das Land bereits verlassen.
    Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu. Fortan gab es kein Problem mehr, das sich mit dieser Formel nicht lösen ließ. »Montesquieu« verhinderte, dass ich Urteile über andere Menschen fällte, mich in ihre Leben einmischte oder auch nur gut gemeinte Ratschläge erteilte. Mit Deutschland, das ich seitdem »das Kriegsgebiet« nannte, wollte ich nichts mehr zu tun haben. Als ich wenig später auf der Insel ein neues Leben begann, war »Raushalten« das Fundament, auf dem ich meine Weltsicht erbaute.
    »Vielleicht ist sie drogensüchtig«, sagte Antje. »Viele Schauspielerinnen haben Drogenprobleme.«
    Ich knallte die Klappe der Spülmaschine zu und trat Todd, der im Weg stand, auf die Pfote.
    »Red keinen Quatsch«, sagte ich.
    Es klang härter als beabsichtigt. Um nicht zu zeigen, dass ich mich im Tonfall vergriffen hatte, musste der nächste Satz ebenso scharf herauskommen.
    »Wer Drogen nimmt, darf nicht tauchen. Sie wäre verpflichtet, mir das zu sagen.«
    Mit Todd teilte Antje die Angewohnheit, treuherzig zu gucken, wenn man sie anschnauzte.
    »Weißt du, was ich glaube?«, fragte sie.

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